Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
klirrenden Geräusch folgte das Knallen meiner Eingangstür. Vielleicht hätte ich ihm folgen sollen, aber ich war wie gelähmt vor Zorn. Ich hatte Jahre meines Lebens damit zugebracht, ihn durch eine Krise nach der anderen zu tragen, und das war der Dank für meine Mühen. Plötzlich wurde mir bewusst, was Menschen dazu brachte, anderen weh zu tun, welcher Nebelschleier sich vor ihre Augen senkte und sie nach dem Messer oder der Pistole greifen ließen. Ich konnte nur auf meinem Stuhl sitzen und warten, dass mein Zorn verrauchte. Das gab mir die Zeit, um mit mir selbst ins Gericht zu gehen. Ich fand es beängstigend, wie jähzornig ich war. Auf Dauer machte diese Eigenschaft mir meine Arbeit sicher schwer. Denn wie sollte ich meinen Patienten helfen, wenn ich meine eigenen Gefühle kaum unter Kontrolle hatte? Die monatelange Sorge um meinen verfluchten Bruder und die Tatsache, dass ich die Arbeit wiederaufgenommen hatte, ehe ich wieder völlig gesund gewesen war, hatten ihren Tribut von mir verlangt. Meistens fühlte ich mich wie ein Automat, denn ich war derart abgestumpft, dass ich nur noch ein Minimum an Mitgefühl mit anderen empfand. Seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus war ich kein einziges Mal in Tränen ausgebrochen, aber in den wenigen Momenten, wenn meine Gefühle an die Oberfläche kamen, brauchte ich meine gesamte Kraft, um sie in Schach zu halten, weil sie einfach übermächtig waren. Ich atmete tief durch und kämpfte gegen die aufsteigende Panik an.
Die Abendsonne schien noch hell durchs Fenster, aber trotzdem kam es mir so vor, als rückten die Wände meiner Wohnung immer näher. Also schleppte ich mein Rad nach unten und fuhr einfach los. Die nervöse Energie, die meine Muskeln speiste, hätte mühelos für eine Fahrt nach Dover und wieder zurück gereicht. Doch ich fuhr nach Westen Richtung City, weil sie abends eine Geisterstadt und somit der ideale Ort zum Fahrradfahren war. Jeden Morgen überfluteten dreihunderttausend Angestellte den Finanzdistrikt, aber kaum eine Menschenseele lebte dort. Die Banken und Versicherungsgebäude, die die Straßen säumten, warteten mit angehaltenem Atem darauf, dass die Rushhour wieder das Blut durch ihre Adern strömen ließ. Die Bank of England sah wie eine Festung aus. Riesengroße Säulen bewachten ihren Eingang, hinter dem wahrscheinlich selbst am Wochenende eine Reihe Anzugträger hockte und sich voller Leidenschaft über die wirtschaftliche Lage unseres Landes stritt. Die Straßennamen priesen die in diesem Viertel früher feilgebotenen Waren an: Ropemaker Street, Cloak Lane, Milk Street. Vor vierhundert Jahren hatten die Bewohner Londons ganz genau gewusst, wo es in der Stadt, die man in wenigen Minuten mühelos zu Fuß durchqueren konnte, Taue, Umhänge und Milch zu kaufen gab. Zwischenzeitlich hatte London sich zahllose umliegende Dörfer einverleibt, und von einem Ende bis zum anderen wäre man zu Fuß mehrere Tage unterwegs.
Ich bog in die Prince’s Street und fuhr weiter bis zum Angel Court, einem um diese Uhrzeit menschenleeren Platz, an dessen Rand die Angel Bank in einem bleichen Licht erstrahlte wie ein Geist. Zwei lebensgroße Engel standen links und rechts des Eingangs, und ich stieg von meinem Rad, um sie mir genauer anzusehen. Ihre steinernen Gesichter waren reglos, doch jahrzehntelanger Regen hatte ihre Züge weich gemacht. Sie sahen aus, als hätte jemand sie aus einem Klostergarten hierher umgesetzt – Relikte einer Zeit größerer Nächstenliebe, in der Bausparkassen Sparern wirklich helfen wollten, statt einzig auf Gewinne für die Aktionäre aus zu sein. Gresham war wahrscheinlich tausendmal zwischen diesen Engeln durch die Tür getreten, ohne ihren Segen zu erbitten, aber Wilcox war noch neu genug gewesen, um vom Äußeren der Angel Bank beeindruckt zu sein. Doch ich war mir sicher, dass das saubere Erscheinungsbild nur oberflächlich war. Wills Erfahrungen hatten mir gezeigt, dass es in der Welt der Banken nur sehr wenig Nächstenliebe gab. Niemanden interessierte, ob du deinen Job verlorst, solange sich auch weiter Geld verdienen ließ. Ich fragte mich, wie vielen Menschen in der Bank Jamie Wilcox’ Fehlen bisher aufgefallen war. Ein paar Kilometer weiter war seine Verlobte wahrscheinlich in Tränen aufgelöst, während ihr kleiner Sohn in seiner Wiege schlief.
Ich wendete mein Rad, aber der Gedanke, zu Hause die Reste des erkalteten Risottos in den Mülleimer zu kratzen, schreckte mich. Noch immer drohte mich mein Zorn zu
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