Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
überwältigen. Sollte ich mich etwa freuen, weil mein Bruder jetzt mit irgendwelchen anderen Junkies durch die Gegend zog? Das Gesicht von Jamie Wilcox war so übel zugerichtet worden, dass sie seiner Frau geraten hatten, sich ihn nicht noch einmal anzusehen. Ihm war die Zukunft gestohlen worden, doch mein Bruder gäbe seine Zukunft freiwillig für ein vergnügtes Wochenende her.
Ich fuhr wieder los, stellte mich auf die Pedale und raste durch menschenleere Straßen, bis ich völlig außer Atem war.
11
Einen Engel-Fachmann hätte ich mir völlig anders vorgestellt. Als schmalgesichtigen Asketen mit biederem Pagenschnitt und nicht wie ein Ebenbild des Weihnachtsmanns. Aber Dr. Paul Gillick musste an die siebzig sein, mit einem dichten weißen Bart und einem sanften Lächeln im Gesicht. Obwohl sein Büro in der National Gallery im Keller angesiedelt war, fühlte man sich dort wie im Himmel, weil man vor lauter Cherubim und Seraphim die Wand hinter dem Schreibtisch kaum noch sah. Als ich Platz nahm, blickten sie mich durchdringend aus ihren runden Augen an. Ein überzeugter Atheist wäre nach spätestens dreißig Sekunden schreiend aus dem Raum gestürzt.
»Ich brauche bitte einen Crashkurs über Engel«, sagte ich.
Er lächelte mich an. »Wie viel wissen Sie denn schon?«
»Ich fürchte, nur sehr wenig.«
Er faltete die Hände über seinem ausladenden Bauch. »Unglücklicherweise ist ihre gesellschaftliche Bedeutung stark zurückgegangen. Wir nennen einen Menschen einen Engel, wenn er rein und selbstlos ist, aber in der Mythologie treten verschiedene Engel auf.« Dr. Gillick sah mich an, als fürchte er, meine Hoffnungen zu zerstören, wenn er weitersprach. »Es gibt eine Hierarchie von neun verschiedenen Arten. Sie reichen von den niederen Bediensteten bis zu den Erzengeln wie Michael und Gabriel hinauf, und da fangen die Probleme an.«
»Die Probleme?«
»Der Bibel zufolge hat Gott einen der Erzengel im Kampf besiegt und ihn zusammen mit einem Drittel der Engel aus dem Himmel verbannt. Dadurch wurden er und seine Anhänger zum gefallenen Drittel.«
»Sie sprechen von Satan?«
Dr. Gillick lächelte erneut. »Ich betrachte ihn lieber als ehemaligen Engel.«
»Aber die anderen sollen Gutes tun, richtig?«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht immer. Sie haben doch bestimmt schon mal von Racheengeln gehört, oder? Sie können Feuer legen, Heuschreckenwolken auf Ungläubige niedergehen lassen und alle möglichen schrecklichen Strafen über sie verhängen, richten also meistens fürchterliches Unheil an«, erklärte er entschuldigend, als wäre er dafür verantwortlich, wenn sich ein Engel schlecht benahm.
»Weshalb könnte ein Mörder von ihnen besessen sein?«
Er blickte schweigend in die Ferne und vergrub die Finger einer Hand in seinem Bart. »Weil kein Mensch einen Kampf gegen einen Engel je gewinnen kann. Vielleicht könnte man sagen, dass Engel die ursprünglichen Superhelden sind.«
»Wie Batman und Superman?«
»Genau. Sie können fliegen, aber sie können sich auch als normale Sterbliche ausgeben, und sie bestrafen die, die etwas Falsches tun.«
Ich schob Gillick die Engelsbilder von den beiden Tatorten über den Tisch, und er sah sie sich an.
»Wenigstens hat er Geschmack«, murmelte er in seinen Bart. »Den Engel in Grün hat ein Schüler von Leonardo da Vinci gemalt. Lieblicher kann die Renaissance nicht werden.« Er sah sich die zweite Karte an und runzelte die Stirn. »Dies hier ist ein völlig anderer Stil. Das Gesicht von diesem Engel ist ein Ausschnitt aus einem größeren Gemälde von Guercino, das über hundert Jahre später als das erste Bild entstanden ist.«
Er zeigte mir das ganze Bild in einem Buch. Zwei Engel hatten sich über den toten Christus gebeugt, und während der eine auf die Wunden starrte, wie um zu begreifen, weshalb er gestorben war, hatte sich der andere in seinem unbändigen Schmerz die geballten Fäuste vor die Augäpfel gedrückt.
»Man kann ihre Verzweiflung deutlich spüren, nicht wahr?« Gillick hob den Kopf und sah mich wieder an.
Ich starrte auf die Bilder, die der Mörder an den beiden Tatorten zurückgelassen hatte. Der Engel in Grün hatte unterwürfig seinen Kopf gesenkt und erfreute Gott mit seinem Geigenspiel. Hingegen sahen die Engel, die neben dem toten Christus standen, in den groben Kleidern mit den hochgeschobenen Ärmeln richtiggehend menschlich aus. Wie zwei Diener, die um ihren toten Herren trauerten.
Doch was verriet mir das über die
Weitere Kostenlose Bücher