Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
presste seine Lippen aufeinander, und ich wusste aus Erfahrung, wie es war, wenn man urplötzlich grundlos einen derart heißen Zorn empfand, dass man sich ungeheuer beherrschen musste, damit er nicht die Oberhand gewann. Vielleicht war er es leid, ständig daran erinnert zu werden, dass er mit einem goldenen Löffel im Mund geboren war, oder er hatte Schuldgefühle wegen seiner kranken Schwester. Jedenfalls dauerte es eine ganze Weile, bis sich seine Anspannung verlor und er wieder mit normaler Stimme sprach. Er erzählte mir von seiner Kindheit in dem Landhaus, das seit über hundert Jahren im Besitz seiner Familie gewesen war und in dem man zehn Minuten laufen musste, um aus seinem Zimmer in die Küche zu gelangen, die versteckt im Keller lag.
»Es war wie in Downtown Abbey, allerdings mit deutlich weniger Skandalen«, sagte er. »Am Ende mussten sie das Haus verkaufen, und jetzt leben sie deutlich bescheidener.«
Inzwischen waren wir die letzten Gäste im Café. Die Bedienung stapelte geräuschvoll Stühle auf den Tischen, doch statt aufzustehen, beugte sich Piernan zu mir vor.
»Die Sache ist die, Sie sind nicht wirklich auf eine Beziehung aus, nicht wahr?« Seine hellbraunen Augen sahen mich durchdringend an. »Liegt das an Ihrer Vergangenheit?«
»Wahrscheinlich«, nickte ich. »Das letzte Mal war alles andere als amüsant.«
»Sie könnten das Tempo vorgeben und wären sicher überrascht, wie geduldig ich sein kann. Vielleicht hätten Sie mich irgendwann ja sogar richtig gern.«
»Ich nehme an, es sind schon seltsamere Dinge geschehen.«
Ich erwiderte sein Lächeln, und er drückte mir eine Visitenkarte in die Hand. »Falls Sie sich noch einmal mit mir treffen wollen, schreiben Sie mir einfach eine E-Mail oder eine SMS .«
»Danke.« Ich steckte die Karte ein. »Aber jetzt muss ich allmählich wieder los.«
Ich ging über das Gras, und als ich wieder über meine Schulter blickte, saß er immer noch alleine zwischen all den leeren Tischen und sah irgendwie verloren aus.
An der Euston Road stieg ich in einen Bus und dachte auf der Fahrt über das Angebot des Mannes nach. Die Typen, bei denen ich bisher immer gelandet war, waren eher aufdringlich gewesen, beinahe übertrieben selbstbewusst und fest entschlossen, die Regie zu übernehmen. Es war wirklich schlau von ihm gewesen, zu behaupten, dass er mir die Führung überließ, denn das hatte meine Neugierde geweckt. Ich betrachtete die zarte blaue Schrift auf der Visitenkarte, blickte aus dem Fenster und versuchte zu vergessen, dass ich Andrew Piernan je begegnet war.
14
Noch bevor mein Wecker klingelte, rissen mich Marimbaklänge aus dem Schlaf. Ich überlegte kurz, weshalb in aller Welt ich plötzlich in Havanna war, doch schließlich fiel mir ein, dass dies der neue Klingelton von meinem Handy war. Ich richtete mich mühsam auf, rieb mir den Schlaf aus den Augen und sah auf die Uhr. Es war sechs Uhr dreißig, und die Männerstimme, die ich hörte, brabbelte so schnell, dass ich sie kaum verstand. Erst nach einem Augenblick erkannte ich, dass es die Stimme von Steve Taylor war.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht bei Ihrem Schönheitsschlaf gestört.« Ich konnte praktisch sehen, wie er anzüglich grinste, aber dann lenkten mich Stimmen und das Knallen einer Tür im Hintergrund von dieser Überlegung ab. »Brotherton erwartet Sie so schnell es geht im Krankenhaus.«
Fluchend warf ich mich in meine Kleider, lief zu meinem Wagen und fuhr los. Die Themse glitzerte bereits im morgendlichen Sonnenlicht, und ein paar Boote glitten ruhig den breiten Strom hinab. Es fühlte sich ein bisschen unnatürlich an, dass ich so früh zur Arbeit fuhr, wie der Anfang eines Alptraums, doch die Journalisten und die Fotografen waren mir bereits zuvorgekommen und lungerten, Kameras und Zigaretten in den Händen, vor der Eingangstür herum. Ich ging ein bisschen schneller, als ich auch den elenden Dean Simons sah. Er war ein freier Schreiberling, der Boulevardzeitungen irgendwelchen Quatsch andrehte und der nach dem Crossbone-Fall mehrere Wochen lang vor meiner Tür gelauert hatte, weil er dachte, irgendwann würde ich weich und gäbe ihm ein Interview. Erst nach zwei Schreiben meines Anwalts war er in den Sumpf zurückgekrochen, aus dem er erschienen war, hatte dann aber aus Rache eine Story voll mit frei erfundenen Zitaten über mich gebracht, der zufolge ich eine gebrochene Frau und als Psychologin nicht mehr einsatzfähig war. Zwar hatte ich von einer Klage abgesehen,
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