Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
Londons zentrale Moschee, ein Theater, zahlreiche Cafés und sogar ein Zoo, in dem es Käfige voll traurig dreinblickender Orang-Utans gab. Sicher war auch Stephen Rayner häufig hier, machte Fotos und hielt dadurch seinen Stress in Schach.
Außer mir liefen noch ein paar andere Möchtegern-Marathonläufer durch den Park. Die drückende Hitze hatte ihren Trainingsplan nicht unterbrochen, und sie hatten jede Menge Geld in möglichst gute Schuhe investiert.
Die Frau vor mir lief in einem flotten Tempo, und während ich hinter ihr dem Weg folgte, bewunderte ich die Herrenhäuser oberhalb der Cumberland Terrace. Vor zweihundert Jahren hatte man sie für den Landadel gebaut, doch ich hatte keine Ahnung, wer die heutigen Besitzer waren. Höchstens Oligarchen oder Supermodels hätten das erforderliche Kleingeld für den Kauf und Unterhalt eines so zentral gelegenen kleinen Palasts.
Andrew Piernan saß auf einer Bank neben dem Clarence Gate. Er trug einen dunkelblauen Jogginganzug und passte sich schweigend an mein Tempo an. Ich hatte Schuldgefühle, weil ich davon ausging, dass er einzig mir zuliebe lief, doch er wirkte vollkommen gelassen, und mit seinen langen Gliedmaßen und seiner schlanken, drahtigen Gestalt hatte er für diesen Sport genau die richtige Figur.
»Sie laufen öfter, stimmt’s?«
»Zweimal in der Woche. Allerdings nicht hier, sondern in der City.« Er nickte in Richtung meines Rucksacks. »Los, geben Sie her.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht nötig, vielen Dank.«
»Natürlich. Schließlich sind Sie Superfrau, wie konnte ich das nur vergessen?«
Ich bedachte ihn mit einem missbilligenden Blick, und wir setzten unser Training schweigend fort. Dass er entspannt genug war, um mich aufzuziehen, bedeutete, dass ich mir keine Sorgen machen musste. Weil es keine Rolle spielte, dass mein Pferdeschwanz sich aufgelöst hatte und ich die Schweißflecken auf meinem T-Shirt deutlich spüren konnte, während er vollkommen locker lief.
»Wollen wir das letzte Stück ein bisschen schneller laufen?«, fragte ich. Ich hoffte, dass mein generelles Tempo sich durch einen Sprint am Ende jeden Laufs langfristig verbessern ließ.
Er lächelte mich an und bog in den Broad Walk ein. Eine Reihe Leute lagen dort entspannt im Gras, und ein junges Paar knutschte unter einer riesigen Kastanie herum. Piernan sprintete so schnell, dass meine verletzten Rippen schmerzten und ich nur noch mühsam Luft bekam, doch irgendwann hatten wir das Café erreicht, und er sah mich grinsend an. »Sie sind ganz schön schnell«, stellte er anerkennend fest. »Diesen Marathon bringen Sie sicher in Rekordzeit hinter sich.«
»Falls ich ihn überlebe«, keuchte ich und ließ ihn die Getränke holen, während ich auf die Toilette ging und meinen Kopf unter das kalte Wasser hielt. Als ich mein Gesicht mit einem Papiertuch trockenrieb, bemerkte ich mein überraschtes Spiegelbild. Offenkundig hatte ich die Tatsache, dass Piernan schneller lief als ich, noch nicht völlig verdaut.
Als ich wieder draußen war, schenkte er Mineralwasser aus einer Flasche in zwei Gläser voller Eis. Seine Hände sahen zerbrechlich aus, und seine Knöchel traten weiß unter der sommersprossenübersäten Haut hervor.
»Seit wann laufen Sie?«
»Schon ewig. In der Schule hat mir praktisch nur das Laufen jemals Spaß gemacht.«
»Lassen Sie mich raten, Sie waren in Eton, stimmt’s?«
Piernan lachte. »Sie halten mich für ein lebendiges Klischee, nicht wahr? Für einen arroganten Fatzke, der zwar einen Haufen Geld, aber nicht viel in der Birne hat.«
»Die Geschworenen sind noch in der Beratung. Nach allem, was ich weiß, könnten Sie auch ein arbeitsloser Sozialhilfeempfänger sein.«
»Ich wette, Sie waren auf irgendeiner netten Mädchenschule und haben danach vier Jahre lang in Cambridge all den Blödsinn, den Sie dort nicht treiben konnten, nachgeholt.«
»Meine Güte, nein. Ich war auf einer schäbigen Gesamtschule in Charlton, und dann habe ich in London Psychologie studiert.«
Plötzlich wurde Piernans Miene hart, und er schwieg einen Moment, bevor er weitersprach. »Wissen Sie, Sie haben ein vollkommen falsches Bild von mir. Ich stamme aus einer privilegierten Familie, aber das interessiert mich nicht.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich habe immer hart gearbeitet. Was wahrscheinlich zum Teil an meiner Schwester liegt.«
Die Bootsverleiher sammelten die letzten Fahrkarten des Tages ein, doch Piernan sah noch immer wütend aus. Er
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