Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
doch der Anblick dieses Widerlings verursachte mir auch nach all den Monaten noch eine Gänsehaut. Er sah vollkommen unverändert aus. Rotgesichtig, fett, schmutzig graues Haar und trug eine Lederjacke, die zu eng für seinen Bierbauch war. Als er mich entdeckte, wirkte er so aufgeregt, als hätte er in mir eine jahrelang verschollene gute Freundin ausgemacht.
»Hallo, Alice. Ich warte noch immer auf das Interview. Kommen Sie doch kurz bei mir vorbei, wenn Sie hier fertig sind.«
Die Kameras der Fotografen klickten, als ich eilig weiterlief.
Als ich Burns entdeckte, stand er vor der Eingangstür der Intensivstation und bedachte mich mit einem treuherzig entschuldigenden Blick, als täte ihm inzwischen leid, dass er mich jemals in diesen Fall hineingezogen hatte.
»Nicole Morgan wurde gestern Abend überfallen«, erklärte er. »Brotherton wollte Sie hierhaben, bevor sie vor die Presse tritt.« Sein grimmiger Gesichtsausdruck verriet, dass die Verletzungen der Frau gravierend waren.
»Was ist passiert?«
»Sie war bei einem Meeting mit der Bank, und er hat sie überfallen, als sie auf dem Weg zurück zu ihrem Wagen war.«
Burns führte mich so schnell durchs Treppenhaus, dass ich Mühe hatte, hinterherzukommen, und ich fragte keuchend: »Und es war ganz sicher unser Mann?«
Er blieb stehen und hielt mir ein zerknülltes Blatt Papier in einer Plastiktüte hin. Mit seinen grellen Farben sah es wie die Aufnahme von einem Buntglasfenster aus. Dieses Mal war es ein anderer Engeltyp, ein Download aus dem Internet, der in deutlichem Kontrast zu den abgeklärten Renaissancegesichtern in den beiden anderen Fällen stand. Ich starrte das Bild mit großen Augen an.
»Er hat seine Signatur verändert.«
»Und auch keine weißen Federn verstreut. Er wurde von einem Wagen gestört, bevor er mit ihr fertig war. Viel mehr kann uns Nicole nicht sagen – weil er sie von hinten überfallen hat.«
Ich fragte mich, ob Morgans Angreifer vielleicht ein Trittbrettfahrer war, schloss mit meinem Generalschlüssel eins der Büros auf, und Burns folgte mir hinein.
»Wurde sie mit einem Messer angegriffen?«, fragte ich.
Burns zog widerstrebend ein paar Polaroidbilder aus seiner Tasche und hielt sie mir hin. Ich studierte sie, kniff dann aber die Augen zu. Dieses Mal hatte der Angreifer es auf ein Höchstmaß an Zerstörung abgesehen. Meine erste Sorge galt den beiden Kindern. Die Veränderung im Aussehen ihrer Mutter würde ein schrecklicher Schock für sie, und ohne psychologische Betreuung kämen sie ganz sicher nicht damit zurecht. Nicoles Gesicht sah aus, als hätte ein Schönheitschirurg eine Reihe folgenschwerer Fehlschnitte gemacht. Eine Messerwunde hatte ihren Mund um mehrere Zentimeter verbreitert, und die linke Hälfte von Nicoles Gesicht war so tief aufgeschlitzt, dass sie vollkommen eingefallen war. Ein vertikaler Schnitt verlief von ihrem Haaransatz über das Augenlid und ihre Wange bis hinab zu ihrem Kinn. Der Blutverlust, aber vor allem ihre Schmerzen mussten fürchterlich gewesen sein. Mit Glück hatten die Ärzte ihr genügend Morphium gespritzt, dass sie erst mal bewusstlos war.
»Wo ist ihr Mann?«, erkundigte ich mich.
»Draußen. Er hat die ganze Nacht an ihrem Bett verbracht.«
Durch das Glasfenster konnte ich Liam Morgan sehen. Er trug immer noch die Butler-Uniform aus schwarzer Stoffhose und weißem Hemd, hatte sich aber die Ärmel hochgerollt und dadurch eine Reihe Militärtattoos enthüllt. Allerdings war er zu abgelenkt, um meinen überraschten Blick zu registrieren. Sein Gesicht war angespannt, und ich könnte hören, wie er an seinem Handy darüber verhandelte, Nicole so schnell es ging in eine private Klinik zu verlegen, ehe seine Stimme ihren Dienst versagte und er krächzend fragte: »Wann zum Teufel kommt endlich der plastische Chirurg?«
Am liebsten hätte ich zu ihm gesagt, er sollte seiner Frau jeden unnötigen, zusätzlichen Schmerz ersparen. Denn kein Chirurg der Welt könnte diese Wunden auch nur weit genug kaschieren, damit sie jemals wieder aussah wie ein halbwegs normaler Mensch. Gleichzeitig würden die Fernsehbosse Nicole einfach fallenlassen, aber das war eben einer der Nachteile, wenn eine Frau vor allem wegen ihres Aussehens erfolgreich war.
Während Burns mir Einzelheiten nannte, tauchte Lorraine Brotherton gefolgt von Taylor auf. Sie war so dünn, dass sie in ihrem grauen Anzug noch substanzloser als Nebelschwaden wirkte, aber ihre Stirnfalten hatten sich über Nacht vertieft,
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