Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
Aussehens berühmt geworden war, wäre es wahrscheinlich noch viel schwerer, dauerhaft entstellt zu sein.
Ich verbrachte meinen Tag mit dem Papierkram, zu dem ich seit Anfang der Ermittlungen nicht mehr gekommen war. Bis ich endlich Feierabend machen konnte, stand das Thermometer an der Wand meines Beratungszimmers auf weit über dreißig Grad, und im Treppenhaus blieb ich kurz stehen und genoss den kalten Luftzug, der mir in den Nacken blies. Schließlich aber lief ich los und wurde nach ein paar Etagen derart schnell, dass ich praktisch auf die Bremse treten musste, als ich um die nächste Ecke bog und Darren mitten auf der Treppe saß. Mir ging kurz der Gedanke durch den Kopf, einfach über ihn hinwegzuspringen und den Sprint nach unten fortzusetzen. Abgesehen von meinen lauten Atemzügen war es totenstill im Treppenhaus. Wir beide waren ganz allein, denn die Hintertreppe wurde außer von den abtrünnigen Krankenschwestern, die dort manchmal heimlich eine Zigarette rauchten, kaum benutzt. Ich blickte über meine Schulter, doch die harten Treppenstufen, die wieder nach oben führten, sahen unerbittlich aus.
Darren wirkte noch verwirrter als beim letzten Mal. Sein Gesicht war halb von der Kapuze seines schwarzen Oberteils verdeckt, und er murmelte lautlos vor sich hin.
»Ich möchte, dass Sie mir einen Gefallen tun, Darren. Kommen Sie mit rauf, damit ich Ihnen einen neuen Termin bei Dr. Chadha machen kann.«
Er schüttelte den Kopf, als erwache er aus einem langen Schlaf. »Ich muss aber mit Ihnen sprechen.« Seine Hände strichen zitternd über den Beton, und ich konnte deutlich sehen, dass er mühsam um Beherrschung rang.
»Hier entlang«, sagte ich ruhig. »Kommen Sie mit.«
Ich ignorierte den Impuls zu rennen und ging langsam los. Darren folgte mir, und als ich über meine Schulter blickte, schwankte sein Gesichtsausdruck zwischen zornig und ängstlich hin und her. Vielleicht waren dies die einzigen Gefühle, die er kannte. Vielleicht hatte er ja eine noch geringere emotionale Bandbreite als ich. Ich versuchte, meine Angst zu unterdrücken, denn um ihm zu helfen, müsste ich so souverän wie möglich sein.
Bis wir oben ankamen, hatte sich Darren offenbar beruhigt, denn er stand völlig reglos neben dem Empfangstisch, als ich ihm den Zettel mit dem Datum und der Uhrzeit des neuen Termins bei Hari gab.
»Versprechen Sie mir, diesmal hinzugehen.« Er nickte, wagte aber nicht, mir ins Gesicht zu sehen. »Sie können jetzt nach Hause gehen, Darren.«
Zögernd setzte er sich in Bewegung. Vielleicht, weil er kein richtiges Zuhause hatte, sondern nur ein Bett in einem Obdachlosenheim.
Langsam schlug mein Herz wieder normal, doch mein Wunsch zu fliegen hatte sich gelegt, und als ich zum zweiten Mal nach unten ging, nahm ich die Stufen mit Bedacht.
Draußen hatte irgendwer auf einer Bank neben der Tür eine Zeitung liegenlassen. HEISSESTER JULI SEIT BEGINN DER AUFZEICHNUNGEN prangte dort als Überschrift über einem Bild von Hunderten von Menschen, die sich gutgelaunt im Schmutzwasser des Sees im Hyde Park tummelten, als wäre er das Mittelmeer. Bis ich an die Themse kam, fand ich den Gedanken, mich an Ort und Stelle auszuziehen und ins kühle Nass zu stürzen, ausnehmend verlockend. Ich lehnte mich an das Geländer und sah auf das Wasser, das an mir vorüberzog. Das Ufer war ein Band aus schwarzem, mit zerbrochenen Flaschen und McDonald’s-Kartons übersätem Schlamm. Zweifellos lauerten gleich Dutzende von Giften dort: Weil-Krankheit, Salmonellen und vielleicht ein Hauch von Hepatitis B.
Ich setzte mich an einen Tisch vor einer Bar, bestellte Orangensaft mit jeder Menge Eis und schlug die Zeitung auf. Sofort fiel mein Blick auf eine zweite, fettgedruckte Überschrift. BRUTALER ÜBERFALL AUF NICOLE MORGAN . Ihre Freunde aus der Werbebranche waren umgehend zu ihrer Rettung angetreten und hatten sie unter einem Bild von ihr in einem glamourösen Kleid als mutige, entschlossene Frau beschrieben, die sich ihre Karriere nicht durch Verletzungen zerstören lassen würde, die die Folge eines feigen Angriffs waren. Die Frau am Tisch mir gegenüber hatte ihre Zeitung auf derselben Seite aufgeschlagen und verzog bei der Lektüre des Artikels derart ängstlich das Gesicht, als hätte sie entdeckt, dass ihr Name als Nächster auf der Liste unseres Killers stand. Ich griff nach meinem Handy und rief Andrew Piernan an.
»Nicht schon wieder Sie.« Ich konnte hören, dass er ein Lachen unterdrückte, als amüsiere er sich
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