Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
ständig über mich. »Sie kommen doch wohl heute Abend zu der Vernissage?«
»Laufen dort jede Menge magersüchtiger Frauen in schwarzen Kleidern rum?«
»Natürlich. Es ist eine private Ausstellung, da kann man ja wohl kaum was anderes erwarten.«
»Dann ziehe ich etwas möglichst Buntes an.«
»Schön für Sie. Aber schließlich haben wir auch Wochenende, und da ist es vollkommen in Ordnung, wenn man mal über die Stränge schlägt.«
Ich trank meinen O-Saft aus und schlenderte gemächlich heim, aber gegen acht bekam ich leichte Kopfschmerzen und wurde fürchterlich nervös. Ich versuchte, mir zu sagen, dass ich schließlich nur mit einem neuen Freund eine Galerie besuchen wollte, doch es nützte nichts. In meinem Spiegel sah ich eine dürre Frau in einem gelben Kleid, die eindeutig dringend Urlaub brauchte, aber trotzdem steckte ich mein Haar zu einem Knoten auf und zwang mich, aus dem Haus zu gehen.
Ein wenig verspätet stieg ich in der Cork Street aus dem Bus. Nach meinem Umzug in die Stadt hatten mich die vielen Galerien magisch angezogen. Weil die Welt, die sie verkörperten, aus meiner Sicht herrlich mondän und unkonventionell gewesen war. Ich war davon überzeugt gewesen, dass die Schickeria hauptsächlich den schmalen Streifen zwischen Bond Street und Soho bevölkerte und täglich stundenlang in der South Molton Street auf die Suche nach tollen Outfits ging. Noch immer waren diese Leute reich und schön, noch immer suchten sie dieselben exklusiven Restaurants und Kneipen auf, doch inzwischen hatte ich erkannt, dass sie trotz allem ganz normale Menschen waren.
Es herrschte bereits ziemlicher Betrieb in der Bruton Gallery. Die Männer wirkten wohlgenährt und wohlhabend, die Frauen dagegen nippten höchstens vorsichtig an ihrem Wein, weil jede Kalorie, die sie zu sich nahmen, sofort ihre Figur zu ruinieren schien.
Auch Piernan war zum Glück schon da. Er blätterte in seinem Katalog und trug einen Leinenanzug, der locker seinen schlanken Körper umspielte. Er sah erleichtert aus, als er mich kommen sah, und neigte seinen Kopf, als wollte er mich auf die Wange küssen, zog ihn dann aber im letzten Augenblick wieder zurück. Trotzdem stand er so dicht vor mir, dass ich die winzig kleinen goldenen Sprenkel um seine Pupillen herum sah.
»Und, wie fällt Ihr Urteil über die Gemälde aus?«, eröffnete ich das Gespräch.
»Offen gestanden, habe ich nicht die geringste Ahnung«, gab er unumwunden zu. »Ich habe Sie nur hierhergebeten, weil ich dachte, dass mein Kunstsinn Eindruck auf Sie macht.«
»Nur, dass Sie gar keinen Kunstsinn haben, stimmt’s?«
Er grinste breit und schob sich ein paar braune Locken aus der Stirn. »Ich habe den Besitzer dieser Galerie dazu gebracht, eine Auktion für wohltätige Zwecke zu veranstalten, deshalb muss ich wohl zumindest etwas guten Willen zeigen.«
Ein älterer Mann – dem Auftritt nach der Gale rist – stürzte mit ausgestreckten Händen auf uns zu. Das pinkfarbene Tuch, das aus der Brusttasche von seiner Jacke hing, sah wie eine zweite Zunge aus. »Sie müssen die berühmte Alice sein – ich habe schon alles Mögliche von Ihnen gehört.« Schließlich ließ er unsere Hände wieder los, sah Piernan mit einem wissenden Lächeln an und eilte davon, um jemand anderem um den Bart zu gehen.
Piernan sah verlegen aus. »Sollen wir uns ein bisschen umgucken, damit Sie sehen, was für ein Ignorant ich bin?«
Ich bewunderte einen leuchtenden Schmetterling in einem kleinen Rahmen, doch die meisten Gäste sahen sich eine Reihe Drucke an einer der anderen Wände an. Auf den Bildern waren Dollarnoten in verschiedenen Neonfarben aufgereiht.
»Die sehen doch alle gleich aus«, sagte ich. »Sind das Warhols?«
Piernan sah in seinen Katalog und nickte. »Sie würden nicht glauben, wenn ich Ihnen sagen würde, wie viel diese Drucke wert sind.«
»Und, wie viel?«
»Mehrere hunderttausend Pfund. Und zwar jeder einzelne.«
»Das ist einfach obszön.« Das Dröhnen in meinem Schädel nahm noch etwas zu. Offenbar war mir der Wein zu Kopf gestiegen, denn was andere mit ihrem Geld machten, ging mich schließlich nichts an.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Alice?«
Ich wandte mich wieder Piernan zu. »Wo soll ich da anfangen? Es gibt kein Geld mehr für das Antiaggressionstraining in unserem Krankenhaus. Londoner Kinder bekommen Rachitis als Folge von Mangelernährung, die Banker helfen niemandem außer sich selbst, und ich finde es einfach unglaublich, dass tatsächlich
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