Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
ihn anscheinend nicht. Natürlich hatte er auch meinen Bruder nicht verschont. Ich verspürte heißen Zorn, als ich den letzten Satz der Hetzschrift las: »Angesichts der psychischen Probleme, die in der Familie von Dr. Alice Quentin liegen, stellte sich natürlich die Frage, ob sie tatsächlich geeignet ist, um der Polizei bei der Suche nach dem Angel Killer behilflich zu sein.« Simons hatte Glück, dass er nicht in der Nähe war. Denn sonst hätte ich ihn eigenhändig umgebracht.
Als ich das Krankenhaus erreichte, stand ein junger schwarzer Mann in einem schlechtsitzenden Anzug vor der Eingangstür. Obwohl wir uns noch nie begegnet waren, schien er mich zu kennen, denn er trat entschlossen auf mich zu und stellte sich mir vor. Sam Adebayo wirkte viel zu jung, um stellvertretender Leiter eines Obdachlosenheims zu sein. Er hatte nicht die allerkleinste Falte im Gesicht, doch seine grauen Schläfen zeigten, dass die Arbeit nicht vollkommen spurlos an dem armen Kerl vorüberging.
Wir setzten uns auf eine Bank im Garten, der in seiner Dürre momentan eher einer Wüste glich. Es schien Adebayo zu erleichtern, seine Sorgen wegen Darren endlich einmal loszuwerden, weil er ohne Umschweife zum Thema kam.
»Er hat sich eine Weile ziemlich gut gehalten, aber als er seinen Job verloren hat, ist er vollkommen abgedreht. Die Routine war offenbar sein Rettungsanker. Danach hat er völlig dichtgemacht. Die anderen Männer haben sich beschwert, weil er die ganze Nacht geredet und sie damit wach gehalten hat. Vielleicht ist er ja deshalb weg.«
»Er wohnt nicht mehr bei Ihnen?«
Adebayo schüttelte den Kopf. »Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich hier bin. Ich habe Sie eben erkannt, weil Darren ein Bild von Ihnen auf dem Handy hat«, fuhr er ängstlich fort. »Er hat diesen Tick, dass er andere beschützen will. Er mochte auch die junge Frau an unserer Rezeption, aber sie hat nach ein paar Monaten gekündigt, weil sie nicht damit zurechtgekommen ist.«
Ich durchforstete mein Hirn nach Einzelheiten aus Darrens Akte. Doch das Einzige, woran ich mich erinnern konnte, war, dass er wegen einer Schlägerei mit einem Mann, der angeblich eine Freundin von ihm vergewaltigt hatte, zu einer mehrmonatigen Haftstrafe verurteilt worden war.
Adebayos Miene war noch immer angespannt.
»Können Sie mir sagen, warum Sie sich solche Sorgen um ihn machen?«, fragte ich.
»Er ist eine verlorene Seele, Dr. Quentin. Und London ist eine große Stadt.«
»Ich gehe davon aus, dass er sich früher oder später noch einmal bei Ihnen melden wird. Könnten Sie mich anrufen, wenn Sie ihn sehen?«
Adebayo nahm meine Visitenkarte und verabschiedete sich. Ich sah ihm hinterher und stellte fest, dass er ungewöhnlich langsam ging. Entweder er war ein junger Mann, der eine schwere Last zu tragen hatte, oder er war deutlich älter, als sein Aussehen vermuten ließ.
Während des gesamten Vormittags lenkte ich mich mit meiner Arbeit ab. Denn es hatte einfach keinen Sinn, mir den Kopf über Darren zu zerbrechen, ehe Hari ihn gesehen und sich ein Urteil über ihn gebildet hatte. Ich kontaktierte die Verwaltung, damit ich meine alten Therapieräume für die Antiaggressionsgruppen bekam, und um drei rief eine der Empfangsdamen mich an und sagte mir, in der Empfangshalle warte ein Mann auf mich.
Ich dachte, Sam Adebayo wäre vielleicht noch einmal zurückgekommen, weil ihm noch was eingefallen war, doch es war Don Burns, der mit ungewohnt ernstem Gesicht neben der Drehtür stand.
»Sie haben schlechte Neuigkeiten, stimmt’s?«
Er nickte knapp. »Erinnern Sie sich noch an unseren Kumpel aus dem Knast? Er wurde heute Morgen tot in seiner Zelle aufgefunden.«
Ich starrte ihn entgeistert an.
»Seine Frau hatte die Scheidung eingereicht. Er liegt hier in der Pathologie, aber sie ist nicht bereit, ihn zu identifizieren.«
Burns hatte ein graues, eingefallenes Gesicht. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er hoffte, dass ich ihn moralisch unterstützen würde, und ich brachte es nicht übers Herz, ihm diese Bitte abzuschlagen. Denn wenn niemand vom Revier bereit war, ihn ins Leichenschauhaus zu begleiten, war er dort anscheinend wirklich völlig isoliert.
Ich stieß einen Seufzer aus. »Das perfekte Ende eines Sommernachmittags.«
Für gewöhnlich ging ich nicht mal in die Nähe unseres Leichenschauhauses. Mit seinen permanent geschlossenen Fensterläden, die die Toten wahrscheinlich vor neugierigen Blicken schützen sollten, kam mir das Gebäude irgendwie
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