BLUTIGER FANG (German Edition)
tippelte eilig zum nächsten Regal, wo er lauschte und äugte und sein Tempo doch wieder verlangsamte. Der Löwe war ihm bei diesen Sicht- und Lautstärkeverhältnissen weit überlegen. Neben der Sinnesschärfe des Paschas nahm er sich aus wie eine Kreuzung aus todgeborenem Baby und Blindschleiche.
Es war alles ruhig. Entsetzlich ruhig.
Kurz überlegte er, ob er nicht einfach gehen und alles hier sich selbst überlassen sollte. Was geschehen war, war geschehen! Was interessierten ihn die Löwen, die toten Wächter oder auch Frank und Bronco, die doch gar nicht seine Freunde, eher seine Feinde waren? Ja, was interessierte ihn selbst Linda, die ihn immer nur ignoriert hatte?
Doch Joel konnte nicht gehen. Er spürte eine starke Kraft in sich. Er wollte Gewissheit haben, musste Gewissheit haben.
Joel passierte gerade die Computerabteilung, von wo aus sich schon die Vitrinen der Schmuckabteilung abzeichneten. Plötzlich stockte er. War da ein Geräusch? Ein dumpfes Grollen, oder hatte er sich getäuscht? Joel lauschte intensiv, doch da war nichts – oder nichts mehr. Er hörte nur das eigene Herz schlagen in dieser gottverdammten Stille.
Wiederholt blickte er auch in die Richtung der jeweils anderen Abteilungen, meist in Löwenhöhe, um einen Angriff so früh wie möglich registrieren zu können.
Joel drehte sich um, ging ein, zwei Schritte zurück, dann vor und der Schweiß brach ununterbrochen aus ihm heraus und bedeckte nicht nur die Stirn, sondern längst den ganzen Körper.
Dann kam er in die Schmuckabteilung und äugte vorsichtig auch unter die Vitrinen. Er war jetzt in Sichtweite der Fahrstühle, die es auch auf dieser Seite des Hauses gab. Links neben den Fahrstühlen war das schneidend grelle Licht einer Notausgangsanzeige und dahinter ein weiterer Ausgang, der zu den Kundentoiletten führte.
Sein getrübter Blick fiel auf die freie Fläche vor den Ausgängen.
Joel zuckte zusammen, äugte und blinzelte gegen seine Sehbehinderung an.
Er vermeinte, dort etwas liegen zu sehen. Etwas Großes. Für einen Moment glaubte er, es bewege sich. Joel verharrte hinter einer der Vitrinen. Verdammt, dass er keine der Taschenlampen bei sich hatte! Jetzt hätte er sie gut gebrauchen können. Er verblieb hinter dem Vitrinentisch und gaffte weiter, in der Hoffnung, etwas zu erkennen.
Ja, doch, da lag etwas und es bewegte sich!
Plötzlich hörte er ein Geräusch, ein seltsames, im Grunde widerliches Geräusch. Es hatte einen Rhythmus und klang eigenartig schmierig, glitschig. Abrupt wurde ihm klar, was er da hörte: Schmatzen!
Joel hörte den Pascha schmatzen und das hieß: Er fraß!
Das Knacken eines Knöchelchens war ganz deutlich, er hörte die Zunge, die heraus- und wieder hineinfuhr, die typischen Unterbrechungen des Kauvorgangs, außerdem stieg ein beißender Gestank hoch. Es roch wie in einer verschmutzten Toilette und – nach geronnenem Blut.
Joel wurde es heiß und kalt bei dem Gedanken, was der Löwe dort fraß.
Nein!
Seine Augen füllten sich auf der Stelle mit Tränen.
Wut, Angst, Vergeblichkeit.
Joel seufzte lautlos.
Warum hatte er sich noch Hoffnungen gemacht?
Plötzlich hörte er ein leises Klack , das durch die Armbrust kam, die er versehentlich auf die Glasplatte der Vitrine hatte sinken lassen. Er hielt die Luft an und gewahrte sofort, dass dieses Klack wie ein Gewitterdonner in die sensiblen Löwenohren eingeschlagen haben musste.
Der Schatten des Paschas fuhr blitzschnell auf und kam auf ihn zu.
Joel drückte den Abzug und der Pfeil schnellte in die Dunkelheit.
Joel hörte ein Knurren, wusste nicht, ob er getroffen hatte, wollte es auch nicht mehr wissen, sondern riss sich herum und rannte los, wobei er die Armbrust fallen ließ, sie war Ballast.
Joel blickte sich nicht um, hatte aber das deutliche Gefühl, der Löwe sei dicht hinter ihm. Bei der Flucht rannte er, ohne recht sehen zu können, durch die Abteilungen und riss Ständer und kleine Verkaufstische genauso um wie eines der Drehregale, die mit CDs gefüllt waren. Mit einem lauten, metallenen Krachen stürzte das Regal um und Joel hörte den Löwen hinter sich donnern. Auch vermeinte er, zu den Geräuschen, die er selbst verursachte, noch andere zu hören. Vermutlich rannte der Pascha alles um, was seinen Weg kreuzte.
Joel lief, was das Zeug hielt, wobei er immer wieder gegen irgendwelche Teddys, Spielbälle und allerlei Krimskrams stieß. Er hetzte nicht den freien Gang an den Rolltreppen entlang, wo ihn der Pascha sofort
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