BLUTIGER FANG (German Edition)
eingeholt hätte, sondern kreuz und quer durch die Abteilungen, wobei die genaue Richtung der Flucht von der Stellung der Regale und ihrer Durchgänge diktiert wurde.
Während der Flucht fielen einzelne Armbrustpfeile aus dem Lederriemen, den er noch immer als Gürtel umgeschnallt hatte. Panisch kontrollierte er, ob wenigstens die Pistole noch da war, jetzt, wo er die Armbrust nicht mehr hatte: Sie war da! Doch sie zu ziehen, sich umzudrehen und draufloszufeuern, hatte er nicht den Mumm. Außerdem war die Gefahr, zu stolpern, viel zu groß.
Bei der nächsten Volldrehung um ein Regal spürte er, wie sich der Schlüsselbund aus der Hosentasche verabschiedete und rasselnd zu Boden fiel. Joel ließ ihn liegen, rannte einfach weiter, wobei er abermals an etwas anstieß, und einmal vor Schmerz aufschrie.
Endlich jagte er durch die letzte Abteilung und dann wie ein Irrer auf die Schränke zu. Auf der freien Fläche blickte er sich zum ersten Mal um. Er sah den Löwen zwar noch nicht, hörte ihn aber. Warum hatte der ihn nicht längst eingeholt? Der Pascha folgte ihm offenbar im gleichen Zickzackkurs, in dem er vor ihm floh. Und das war wahrscheinlich der Grund, warum er ihn noch nicht eingeholt hatte. Denn der hatte es mit seinem Gewicht schwerer, die 180-Grad-Wendungen in den nächsten Regalgang zu nehmen. Doch jetzt war er wohl auch zwischen den letzten beiden Regalen, die ihn von der freien Fläche noch trennten.
Joel hörte es gewaltig scheppern und rannte genau auf den Schrank zu, in dem er sich schon einmal versteckt hatte. Er riss die Tür auf, stürzte hinein und sah, als er sich umdrehte – in der Sekunde, bevor er die Tür zuzog –, wie der Pascha auf der freien Fläche erschien und wütend auf den Schrank zustürmte.
Joel zerrte die Tür zu und verriegelte sie von innen.
Jetzt erwies es sich als Vorteil, dass er schon mal hier drin gewesen war und deshalb wusste, wo die Verriegelung am Schrankboden und an der Decke war und womit die Flügeltüren zugehalten wurden. Er fingerte hektisch und unbeholfen zugleich herum, weil er so gut wie nichts mehr sehen konnte. Die Schwellungen hatten auch am anderen Auge begonnen und wurden stärker. Es war nur eine Frage der Zeit, dann würde er durch die immer enger werdenden Schlitze gar nichts mehr erkennen.
Kaum war der Schrank dicht, war der Löwe auch schon da.
Er brüllte ehrfurchtgebietend und Joel bemerkte die Wucht des Körpers, die gegen die Schranktür prallte. Der Pascha stellte sich offenbar auf und schlug seine Pranken gegen die Türen.
Joel spürte die Anwesenheit des Löwen, der nur wenige Zentimeter von ihm entfernt war. Alles, was ihn vom Tod trennte, war diese schwere und robuste Holztür.
Joel roch den verpesteten, nach geronnenem Blut riechenden Atem des Löwen selbst durch das massive Holz hindurch und drückte sich gegen die Hinterwand des Schranks.
Es war stockduster. Er konnte die Hand nicht vor den Augen sehen und drückte sich noch mehr gegen die Hinterwand, um nur ja weit weg von der Vorderseite zu sein, an der der Löwe sich immer noch zu schaffen machte.
Joel vermeinte, nachlassende Aktivität zu vernehmen – und plötzlich war alles wieder still. Kurz zuvor hatte er noch die Pranken an der Außentür herunterrutschen gehört und ein tiefes Grummeln vernommen, das sich schon weiter entfernt anhörte.
Dann war alles so, als hätte dieser Sturm nie stattgefunden.
Joel klebte immer noch an der Hinterwand des Schranks.
Allmählich atmete er normal, was ihm nach der Flucht kaum mehr möglich gewesen war. Das Adrenalin überspülte ihn und er keuchte. Beim Luftschnappen zog ein Pfeifen durch seine Bronchien und er fror entsetzlich, obwohl er schweißgebadet war. Der Schub war so gewaltig, dass seine Beine nachgaben und seine Arme zitterten, als hätte er Schüttelfrost. Er sank an der Wand entlang hinunter und landete auf dem Hosenboden.
Das Zittern hörte nicht auf.
Wieder war er dem Tod von der Schippe gesprungen. Wie oft hätte er heute sterben können? Eines Tages würde er sterben müssen, aber ihm schwante, dass es nicht der heutige Tag sein würde. Jedenfalls nicht, wenn man in Anschlag brachte, wie oft es heute hätte passieren können.
Lange saß Joel in dem Schrank.
Lange war es dunkel und still um ihn.
Seine Augen tränten.
Er dachte an Linda, Frank und die anderen. Er dachte sogar an Bronco, der ihm mit einem Mal Leid tat. Hoffentlich überlebte er seine Verletzungen.
Ein schlechtes Gewissen überfiel ihn. Er
Weitere Kostenlose Bücher