Blutiger Frühling
nichts Ungewöhnliches!«
»Nein, Herr.« Herbrand kratzte sich den grauen Stoppelbart und fuhr mit dem Finger einmal um den Halsausschnitt seines ledernen Kollers, als sei ihm der Kragen zu eng. »Aber früher haben sie gelacht und ihre Zoten gerissen. Und heute ...«
»Was ist heute?«
»Sie tuscheln und tauschen irgendwelche geheimen Botschaften aus«, gab Herbrand zurück. »Mir scheint, sie empfangen sogar Nachrichten von weit her. Denn erst gestern sah ich auf dem Fensterbrett im Wirtshaus ein Flugblatt liegen.«
Albrecht wunderte sich nicht darüber. »Mag schon sein. Aber keiner aus dem Dorf kann lesen«, antwortete er. »Irgendein Gast wird es liegen gelassen haben.«
»Es ist nicht das erste Flugblatt«, widersprach Herbrand. »Seit kurzem wohnt im Krug ein Scholar, der ihnen die Zeitungen vorliest.«
»Und was sind das für Blätter?«, fragte Albrecht müde. »Doch sicher die üblichen Berichte von Kälbern mit zwei Köpfen oder ähnlichen Wunderdingen.«
»Nein, Herr«, sagte Herbrand. »Im Schwarzwald haben sich Bauern gegen ihre Herren erhoben – davon berichten die Blätter.«
Albrecht wischte sich über die Augen. Er zuckte die Achseln. »Der Florian Geyer sprach mir schon davon«, sagte er nachdenklich. »Wie dem auch sei – hier in der Herrschaft Weißen- stein liegen die Dinge anders. Ich unterdrücke meine Bauern ja nicht – im Gegenteil. Ich bin auf ihrer Seite ...«
»Aber Ihr nennt sie auch ›Eure Bauern‹«, erwiderte Herbrand.
»Aus alter Gewohnheit.« Albrecht zog noch einmal die Schultern hoch. »Und sie sind ja tatsächlich meine Schutzbefohlenen. Ist es nicht so?«
»Sicher.« Herbrand nickte. »Doch die Bauern mögen das anders sehen. Sie fühlen sich abhängig – und sind es auch, wenn man’s genau betrachtet. Was ihr Leben und ihre Arbeit betrifft, so trefft doch Ihr alle wichtigen Entscheidungen.«
»Und welche sollten das sein?« Albrecht verstand nicht recht. »Sie entscheiden immer selbst, wann sie pflügen und säen und ihre anderen Arbeiten verrichten.«
»Das ist es nicht, was ich meinte«, gab Herbrand zurück. »Ihr bestimmt die Höhe der Abgaben. Ihr müsst erst zustimmen, wenn Holz geschlagen werden soll. Ihr habt das Jagd- und Fischrecht allein. Ihr gebt Erlaubnis zur Eheschließung, und Ihr habt das letzte Wort bei allem, was wirklich Gewicht hat.«
»Ja. Ich bin für meine Bauern die Obrigkeit«, erwiderte Albrecht nachdenklich, »aber ich entscheide doch stets zugunsten meiner Untergebenen.«
Herbrand sagte nichts dazu. Aber seine Miene war sorgenvoll, als er auf Geheiß seines Herrn den Saal verließ. Er musstean den verstorbenen Burgherrn Eberhart denken, der mit seinen Hintersassen weitaus grober umgesprungen war, als sein Sohn es jetzt tat, und sich keinen Deut um Gerechtigkeit geschert hatte. Das konnten die Bauern von Weißenstein weder vergessen noch vergeben haben. Vielleicht setzten sie darum weit weniger Vertrauen in den jungen Burgherrn als er, Herbrand, ihm entgegenbrachte. Man würde auf der Hut sein und die Augen offen halten müssen – so viel war gewiss …
C HRISTFEST
Ü berraschend aufgetretenes feuchtmildes Wetter hatte beinahe den ganzen während der letzten vierzehn Tage gefallenen Schnee wegschmelzen lassen, und jetzt war der draußen niedergehende Dauerregen dabei, auch die letzten Spuren der weißen Pracht zu tilgen. Albrecht wandte sich vom Fenster ab und richtete sein Augenmerk wieder auf den Inhalt seiner Gewandtruhe, der ausgebreitet auf seinem Bett lag. Noch zwei Tage bis zum Heiligen Abend. Was sollte er auf der Fahrt zu Annas Kirchdorf tragen?
Anfangs hatte er den Gedanken erwägt, sich in Weiberkleider zu vermummen. Stellte er es richtig an, würde ihn darin niemand erkennen, und er konnte sich Anna unauffällig nähern. Doch nach reiflicher Überlegung hatte er die Idee wieder verworfen. Eine solche Maskerade widerstrebte ihm zu sehr. Außerdem musste eine Frau von seiner Körpergröße in jedem Fall Aufmerksamkeit erregen.
Also kam nur Kleidung in Frage, die für das nasse Wetter da draußen geeignet war – warmes Wollzeug, Jacke wie Hose, eine wachsgetränkte Gugel mit breitem Koller ... und darüber die Ölhaut, die vollkommen regensicher machte.
Während er die passenden Sachen auswählte und beiseite legte, spürte Albrecht das brennende Verlangen, Anna nah zu sein, besonders schmerzhaft. Morgen endlich würde er sie sehen – nach vier langen Wochen. Aber er war sich beinahe sicher, diesmal nicht mit
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