Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutiger Klee: Roman (German Edition)

Blutiger Klee: Roman (German Edition)

Titel: Blutiger Klee: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Faro
Vom Netzwerk:
duftenden Gräsern über einen Menschen gekommen war. Warum? Er würde
in die Gesichter der Menschen schauen und nach einer Antwort suchen. Auf ihre Hände
sehen, die betont gelassen im Schoß lagen oder sich zusammenballten oder geknetet
wurden, bis die Knöchel weiß hervortraten. In ihre Augen blicken. Er würde ihren
Antworten lauschen und den Pausen, die sie machten. Er würde die Geschichten registrieren,
die sie nicht erzählen wollten. Ein uralter Mann war erstochen worden, an einem
Platz, zu dem andere Menschen zum Beten kamen. Mit Linsen in den Schuhen. Es war
mit ziemlicher Sicherheit kein Raubmord gewesen und ganz bestimmt kein Sexualdelikt.
Aber es gab eine Geschichte, die mit einem Messer endete, und sie lag lange zurück,
dessen war sich Pestallozzi gewiss. Vor vielen Jahren hatte seine Klasse im Deutschunterricht
den Roman ›Ein Mord, den jeder begeht‹ des Schriftstellers Heimito von Doderer lesen
müssen, alle waren tödlich gelangweilt gewesen, obwohl der Titel doch so vielversprechend
geklungen hatte. Aber eine Passage daraus war Pestallozzi für immer im Gedächtnis
haften geblieben: ›Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen
Eimer, und ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter. Da kann einer die Kleider
und Kostüme wechseln, so viel er will.‹Oder so ähnlich. Damals in der 5A
hatten jedenfalls Grinsen und Feixen eingesetzt, alle hatten sie sich detailreich
ausgemalt, was aus so einem Kübel an einem herunterfließen könnte, bäh. Dann war
Pestallozzi Polizist geworden und er war vor so vielen Opfern gestanden, war trotzigen
und verstockten, hasserfüllten und verzweifelten Tätern gegenübergesessen. Und immer
hatte es eine Geschichte gegeben, die der Tat lange vorangegangen war. Die sie nicht
entschuldigte, aber die vieles fassbar machte. Die Kindheit rinnt ein Leben lang
an uns herunter. Das stimmt, dachte Pestallozzi. Immer.
    Sie passierten
Hof und Fuschl, einmal mussten sie den Postbus überholen, der gerade aus der Station
fahren wollte, und der Chauffeur hupte aufgebracht. Dann kam die lange weit gekrümmte
Kurve, die den Blick auf den See freigab. Die Landschaft war so betörend schön,
dass es sogar zu ihm durchdrang. Das Wasser, die Berge, der Himmel, die Sonne. Vor
ihnen lag St. Gilgen, wo Mozarts Schwester Nannerl noch lange nach seinem Tod gelebt
hatte, die Kirche stach aus dem Gewinkel der Häuser, Gondeln, so groß wie Kinderspielzeug,
fuhren hinauf zum Zwölferhorn. Dann lag das Städtchen auch schon hinter ihnen, sie
fuhren nun direkt am Ufer entlang, links schwappte der See bis fast an die Straße,
rechts türmten sich senkrecht die Steilhänge, die mit Netzen gegen Steinschlag gesichert
waren.
    »Wohin zuerst?«,
fragte Leo.
    Pestallozzi
dachte kurz nach. »Ich will einfach nur schauen, was die Leute heute so treiben
und denken. Lass mir Zeit.«
    Zehn Minuten
später waren sie da. Leo lenkte den Skoda auf den großen Parkplatz am Ortsrand,
auf dem schon die ersten Reisebusse standen. Sie stiegen aus und hielten einen Moment
lang inne, atmeten tief durch und schauten auf den See hinaus. Dann gingen sie einträchtig
schweigend ins Zentrum, durch die steilen engen Gassen, die immer wieder von Stufen
unterbrochen wurden, was jeden Autoverkehr, zum Glück für den Ort, unmöglich machte.
Vor der Kirche warteten schon die Pferdekutschen, die Sonne begann gerade den Morgentau
von Tischen und Stühlen in den Gastgärten zu trocknen. Sie standen am Platz vor
dem Hotel ›Kaiserpark‹, Pestallozzi fühlte die Blicke des gesamten Ortes wie in
seinem Rücken gebündelt.
    »Und jetzt?«,
fragte Leo wieder.
    Pestallozzi
sah sich um, drei Frauen, die vor einem Lebkuchengeschäft zusammenstanden und tuschelten,
verstummten und zupften ihre Schürzen zurecht. Er deutete auf das kleine Lokal neben
dem Laden.
    »Jetzt gehen
wir einen Kaffee trinken.«
    Leo nickte
eifrig zustimmend, sie gingen auf das Lokal zu. Hinter den Fensterscheiben waren
vergilbte Vorhänge zu erkennen, in diesem Etablissement durfte eindeutig noch geraucht
werden. Leo hielt ihm die Tür auf, Pestallozzi betrat den lang gezogenen Raum, und
alles verstummte. Diese Reaktion war ihm wohlvertraut, manches Mal kam er sich wie
ein Schauspieler vor, der auf die Bühne kam und abwartete, bis das letzte nervöse
Hüsteln verstummt war. Er nickte der jungen Frau hinter dem Tresen und den Männern
davor zu, und sie setzten sich an den ersten Tisch gleich neben dem Eingang. Die
junge Frau sah zuerst

Weitere Kostenlose Bücher