Blutiger Klee: Roman (German Edition)
im Vorraum, die Tante Kathi stellte
Wasser für einen Tee auf den Herd und war so geschäftig wie immer.
»Ist auch
wirklich alles in Ordnung?«, fragte Anna.
Die Tante
schüttelte beinahe unwirsch den Kopf.
»Jetzt mach
nicht so ein Theater, Anna. Ich bin halt dagestanden und hab nachgedacht. Das kommt
vor bei so alten Leuten wie mir. Trag bitte die Teller hinein, du musst doch noch
etwas essen, bevor du fahrst!«
Damit war
das Thema beendet. Sie tranken Tee und aßen den Rest vom Nusskuchen, der heute ganz
besonders saftig schmeckte, weil er über Nacht in einer Plastikdose aufbewahrt worden
war. Dann holte Anna wieder ihre Reisetasche aus dem ersten Stock und verabschiedete
sich von der Tante Kathi, sie drückte die alte Frau, als ob sie gar nicht mehr damit
aufhören könnte.
»Du kommst
ja wieder«, sagte die Tante Kathi und strich ihrer Nichte über die widerspenstige
Frisur, die ein Knoten sein sollte.
Anna nickte
und schluckte. »Allerspätestens am Wochenende! Pass auf dich auf, ja?«
Sie winkten
sich zu, bis Anna die Hecke passierte, dann ging sie den Weg hinauf zur Bushaltestelle.
Zum Glück war der Schnellbus nach Salzburg pünktlich und ausnahmsweise einmal nicht
voll besetzt. Anna setzte sich in eine leere Bank ganz hinten und starrte zum Fenster
hinaus. Irgendetwas war passiert vor dem ›Kaiserpark‹, noch nie hatte sie ihre Tante
so abwesend und wie erstarrt erlebt. Was hatte sie bloß gesehen? Oder besser gesagt,
wen? Über Anna kam plötzlich die Gewissheit, dass sie nicht alles von ihrer heiß
geliebten Tante Kathi wusste.
*
Katharina Luggauer stand am Fenster
ihrer Schlafkammer im ersten Stock und sah auf den See hinaus. Die Sonne ging gerade
über der Bleckwand unter, wie ein riesengroßes oranges Eidotter, das hinter den
Bergrücken zerfloss. Wie lange stand sie schon hier? Sie wusste es nicht. Immer
öfter hatte sie dieses Gefühl, dass die Zeit keine Rolle mehr spielte. Sie ging
durch den Ort, eine alte Frau, die alle kannten, die stehen blieb und mit den Nachbarn
tratschte. Und dann zog ein Duft von Flieder oder der Geruch nach einem Schweinsbraten
im Rohr vorüber, und plötzlich war sie wieder ein junges Dirndl wie damals. Die
Vergangenheit schien ihr immer öfter näher zu sein als die Gegenwart. Sie konnte
sich oft beim besten Willen nicht mehr erinnern, was gestern gewesen war, aber sie
wusste jedes Wort und jede Geste, die damals ihr Leben bestimmt hatten. War das
das Alter? Wurde so das Sterben leichter? Wenn man wieder in die Kindheit zurückkehrte?
Heute hatte
sie die Anna ordentlich erschreckt, es tat ihr immer noch leid. Aber wie hätte sie
ihr sagen können, was sie gesehen hatte? Die Anna hätte doch nur gedacht, dass die
schlimme Verwirrtheit jetzt auch über ihre Tante gekommen wäre, Alzheimer nannte
man das ja heute. Wie bei der alten Kernerin, die mit ihrer Bösartigkeit eine Last
für das ganze Dorf geworden war.
Sie drehte
sich um, langsam und schwerfällig. Als junges Mädel war sie so flink wie eine Gämse
gewesen, auf jedem Baum war sie als Erste oben gewesen und hatte den Buben auf den
Kopf gespuckt. Und jetzt, jetzt spürte sie jede Treppenstufe in den Knien. Es gab
Tage im Winter, da hatte sie sich ernsthaft überlegt, ob sie nicht unten auf der
Bank schlafen sollte. Aber dann hatte sie sich jedes Mal einen Ruck gegeben. So
weit war es noch lange nicht.
Sie sah
sich in der Kammer um. Ihr Bett mit der gehäkelten Tagesdecke, die alten Fotografien
von der Familie darüber und die Madonna, die schon ganz verblichen war. Der Kasten
für die Kleider und die Truhe für die Bettwäsche, die Tischdecken und die Strümpfe.
Und das kleine Regal an der Wand, auf dem ihre Schätze standen. Der Eiffelturm,
den die Anna von einer Reise nach Paris mitgebracht hatte. Ein Paar gestrickte Babyschuhe,
die sie selbst bei ihrer Taufe getragen hatte. Unfassbar, dass ihre alten Füße einmal
so winzig gewesen waren. Die Bücher, die ihr die Mutter vererbt hatte. ›Die Frau
als Hausärztin‹, die aufklappbaren Tafeln über ›Mann und Weib‹ waren für die kleine
Kathi und ihre Geschwister aufregender gewesen als alle die Nackten in den Zeitungen
heute. Das ›Regensburger Kochbuch‹ und ›Die süddeutsche Küche‹, wie die wohl in
die Familie gekommen waren? Jetzt war es lange zu spät, die Mutter danach zu fragen.
Die hatte auch nie nach den Rezepten gekocht, gefüllter Kapaun, Mandelbögen und
Pfirsichkompott, woher hätte sie das Geld für solche Zutaten
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