Blutiger Winter: Ein Oger-Roman (German Edition)
ihrer Reise nach Sandleg aufbrachen.
»Kann losgehen«, sagte der Oger, als ob er in die Sprache der früheren Zeiten zurückgefallen wäre.
Niemand widersprach, alle waren des Wartens müde, dennoch war jedem unwohl bei dem Gedanken, was sie in der Hafenstadt vorfinden würden.
Weitere zwei Stunden vergingen, bis sie die ersten Lichter von Sandleg sehen konnten. Der Schein von einem Dutzend Fackeln erhob sich von der Ostmauer. Am Tor hatte man zwei Feuerkörbe entzündet. Keine Bewegung war auf dem schmalen Wehrgang auszumachen, und auch die brennenden Lichter schienen nur in ihre Halterungen gesteckt und dazu verdammt, bis zum Morgengrauen zu verglühen. Cindiel war vom Pferd gestiegen und hatte zu den beiden Ogern aufgeschlossen.
»Es sieht ganz ruhig und friedlich aus«, sagte sie.
»Ruhig ist es auch auf dem Friedhof«, entgegnete Mogda und schürte erneut Cindiels Befürchtungen, dass sie zu spät kamen. »Sandleg ist eine Hafenstadt mit Händlern und Seeleuten von überall her. Im Hafenviertel tummeln sich die Dirnen, und in jedem Gasthaus sollte laut Musik gespielt werden. Aber stattdessen hüllt sich die Stadt in Schweigen. Ruhig ist es, da hast du Recht, aber friedlich sieht anders aus.«
»Woher willst du wissen, wie Frieden aussieht?«, fauchte Cindiel ihn an. »Die Oger haben ihr ganzes Leben lang nichts anderes als Krieg erlebt.«
»Ja, und in den letzten Jahren war es der Krieg, den wir für die Menschen ausgefochten haben. Die Oger waren es, die Illistantheè zur Strecke brachten, während sich die Menschen mit all ihren Intrigen dem leeren Königsthron widmeten und ein jeder versuchte, auf ihm Platz zu nehmen, bevor es ein anderer tat. Vielleicht sind die Götter auch verschwunden, weil sie so enttäuscht waren von den Hüttenbauern.«
Cindiel taten ihre Worte bereits leid. Mogda hatte Recht. Die Menschen hatten sich tatsächlich nicht mit Ruhm bekleckert. Sie ließen die Oger ihre Arbeit machen und versuchten dann zum Dank, diese zu übervorteilen. Und jetzt gaben sie ihnen auch noch die Schuld daran, dass die Götter verschwunden waren.
Cindiel war mulmig zu Mute, als sie sich der Stadt näherten. Es war zwar dunkel, und Stadtwachen zeigten sich auch nirgends, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass irgendetwas nicht stimmte. Vielleicht hatten die Oger die Armee der Menschen zurückgedrängt - oder Schlimmeres - und warteten jetzt hinter der Mauer, um ihnen aufzulauern. Gut, sie waren in Begleitung zweier Oger, doch wie Cindiel schon festgestellt hatte, waren die beiden nicht gerade typische Exemplare ihrer Rasse. Es könnte sein, dass sie diese genauso wenig verschonten wie alle anderen, die nicht ihrem Trupp angehörten. Immerhin kannte sie Hagmu nicht, aber der Name des Ogeranführers eilte ihm bereits voraus, und das nicht gerade verbunden mit den besten Taten. Hagrim schien sich über all diese Dinge überhaupt keine Gedanken mehr zu machen. Seit die Stadt in Sicht gekommen war, hatte er nichts anderes zu tun gehabt, als auf dem Pferderücken zu hocken und seine Geldbörse zu durchwühlen.
»Was machst du eigentlich die ganze Zeit?«
»Es sind genau sechs Gold und dreizehn Silber«, antwortete er, während er seine Rechnung noch einmal überprüfte.
»Und?«
»Was und?« Hagrim sah sie verständnislos an. »Du glaubst doch nicht, dass ich in eine belagerte Stadt reite und mich der Gefahr aussetze, dass mir schon am zweiten Tag das Gold ausgeht. Es gibt nichts Öderes als eine Belagerung, und Ödnis macht mich eben durstig.«
»Du hattest aufgehört zu trinken«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Du wiederholst dich«, erwiderte der Geschichtenerzähler. »Ich hatte aber auch damit aufgehört, meine Seele an Hexen zu verkaufen und mich belagern zu lassen. Wer weiß, wie lange ich noch die Gelegenheit haben werde, eine gute Flasche Rotwein zu trinken. Soll ich all mein Erspartes meinen nie geborenen Kindern vererben?«
»Du hast Erspartes?«, fragte Cindiel verwundert.
»Natürlich«, grinste Hagrim. »Sechs Gold, dreizehn Silber.«
»Seid still«, fuhr Mogda dazwischen.
Die beiden schwiegen, wobei Cindiel hätte schwören können, ein Kichern aus Hagrims Mund zu hören.
Cindiels Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Niemand entdeckte sie, und niemand hatte ihnen einen Hinterhalt gelegt. Dicht an die Mauer gepresst, folgten sie dem schmalen Trampelpfad bis hin zum Wasser. Die Uferböschung fiel hier stark ab. Im Laufe der Jahre hatte die See versucht, sich einen Teil des Landes
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