Blutiges Echo (German Edition)
aufsperrst. Und ich will nicht, dass du dabei an irgendwelche Mädels denkst oder was auch immer. Du sollst dich nur darauf konzentrieren, was du hörst. Was du spürst. Kapiert?«
»Ich versuch’s.«
»Ich sage dir, wann du aufhören kannst. Einfach tief einatmen, als würdest du im Bett liegen und gleich einschlafen. Entspann dich. Hör hin.«
Der Wind war kühl, und Harry spürte die einzelnen Böen, zunächst sehr stark und dann, je mehr er sich entspannte, umso weniger, und er hörte die Blätter über den Boden wehen; er glaubte sogar zu hören, wie sie in der Luft schnalzten, wenn der Wind sie drehte, und schließlich war der Wind ganz leicht und roch nach Regen, und Harry nahm die Welt und die Erde immer weniger wahr, und alles war gut, aber dann fing er an, an Talia zu denken und wie sie aussah, wie sie roch, wie ihr Körper in den engen Kleidern saß und was Joey gesagt hatte …
»Lass das«, sagte Tad.
Harry öffnete die Augen. »Was?«
»Du verschmilzt nicht mit deiner Umgebung, Harry. Zuerst dachte ich, du packst es, aber jetzt bist du irgendwo anders. Das sehe ich an den Reaktionen deines Körpers. Am Anfang warst du ganz locker, hast sogar die Arme baumeln lassen, so entspannt warst du. Dann kamen sie wieder hoch, mit verkrampften Händen und Fingern. Du musst schon mit mir mitmachen.«
»Ich bemühe mich ja.«
»Ich weiß. Und es ist nicht einfach. Das wird noch eine Weile brauchen. Jetzt versuchen wir es noch einmal, und wenn ich spüre, dass du entspannt bist, sage ich ›Schritt‹, und du machst einfach einen Schritt nach vorn. Keine bewusste Bewegung, die dich aus der Verbindung mit deiner Umgebung rausreißt, sondern so wie ein Blatt, das im Wind schwebt. Lass die Elemente dich beherrschen; es geht nicht darum, dass du die Kontrolle über sie hast.«
»Wenn ich das Bein hebe, hab ich dann nicht die Kontrolle darüber?«
»Zuerst schon. Dann hast du es mit deinem Bewusstsein zu tun. Aber denk mal drüber nach: Wenn du irgendwo langgehst, dann tun das zwar deine Muskeln, aber die einzelnen Bewegungen kommen von ganz allein. Wenn du Autofahren lernst, denkst du anfangs: Hände am Lenkrad, Blick nach vorn, jetzt aufs Gas treten und so weiter. Aber irgendwann steigst du ins Auto und fährst los, und du bist dir nicht bewusst, was du im Einzelnen tust. Das wollen wir hier erreichen. Wir werden uns am Bewusstsein vorbeiarbeiten und zum Unbewussten gelangen. Zu dem Teil, der sich viel eher die universelle Verbindung zwischen Mensch und Natur zunutze macht.«
»Im Ernst?«
»Im Ernst. Noch mal, Harry. Entspann dich. Schließ die Augen. Hör hin.«
Kapitel 26
Eine Woche lang übte Harry mit Tad im Garten, wenn er nicht gerade im College oder bei der Arbeit war – die er, wie sich herausstellte, doch nicht verloren hatte. Sie wollten ihn zwar feuern – davon war er überzeugt –, aber neue Leute waren schwer zu kriegen, und im Großen und Ganzen war er recht zuverlässig.
Er schlief bei Tad, damit er nicht mitten in der Nacht in Versuchung geriet, einen Abstecher zum Schnapsladen zu machen. Außerdem konnte er so dafür sorgen, dass Tad selbst keinen Ausflug zum Schnapsladen machte.
Harry stellte fest, dass er den Alkohol zwar vermisste, aber auch wieder nicht so sehr, dass er völlig seine Gedanken beherrscht hätte. Tad hingegen lief nachts auf und ab, fluchte, rieb sich über den Mund, ging hinaus in den Garten und bewegte sich langsam über den Rasen. Mit leichten Schritten zog er seine Bahnen und arbeitete hart daran, wieder eins mit dem Universum zu werden. »Kurz vor der Geburt, im Mutterleib, sind wir das alle«, erklärte Tad ihm. »Von Natur aus. Dann kommt uns die Verbindung abhanden.«
Harry ertappte sich dabei, wie er Tad beobachtete, der sich in ein altes T-Shirt, eine Jogginghose und Tennisschuhe geschmissen hatte, und die einfachen, lockeren Schritte bewunderte, mit denen er sich durch den Garten bewegte, während das Mondlicht ihn in Weiß tauchte und die Blätter um ihn herumsegelten. Manchmal strudelten sie umeinander wie in einem kleinen Tornado, Tad in ihrer Mitte, das ruhige Auge des Sturms; er schritt geschmeidig durch den Garten, seine Gefolgschaft aus trockenen, knisternden Blättern rauschte ihm dicht auf den Fersen hinterher, und er und die Erde und das Mondlicht und die Luft – alles war eins.
Und schließlich wurde es mehr als nur Schritte über den Rasen.
Tad begann auch andere Bewegungen zu machen. Seine Arme schossen hervor, lässig wie bei einem
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