Blutiges Schweigen
erwiderte ich und hob die Hand. Dann schwieg ich einen Moment, um ihr Zeit zu geben, sich zu sammeln. »In Ihrer Aussage steht unter anderem, dass Sie Geräusche gehört haben.«
»Ja. Visuell stehe ich vor einer schwarzen Wand, an der ich einfach nicht vorbeikomme.« Sie brach ab und berührte mit dem Finger ihr Gesicht. »Aber ich erinnere mich an Geräusche.«
»Was war es Ihrer Ansicht nach?«
Sie verstummte.
Ich beugte mich vor. »Sona?«
Sie sah mich an. »Nichts, was ich sinnvoll einordnen könnte.«
Ich warf Healy einen Blick zu und schüttelte den Kopf. Damit befassen wir uns später . Der größte Fehler wäre jetzt gewesen, Erinnerungen zu erzwingen. Wenn man jemanden zu einer Antwort drängte, verschreckte man ihn entweder oder brachte ihn dazu, unter Druck etwas zu erfinden.
»Darf ich Fragen über ihn stellen?«, meinte ich.
»Mark?«
»Nein, den Mann, der Sie in seiner Gewalt hatte.«
Sie nickte und rutschte ein wenig auf dem Sofa herum. Kurz stieg mir der Geruch ihres Parfums in die Nase. Im Bad hatte sich die Lüftung endlich abgeschaltet. Nun herrschte Totenstille.
»Haben Sie ihn sich je anschauen können?«
»Nicht bei Tageslicht. Aber ich habe ihn ein paarmal gesehen, als er vom Rand des Lochs zu mir heruntergeblickt hat.«
»Und können Sie ihn beschreiben?«
»Dunkles Haar, dunkle Augen, irgendwie … hässlich, würde ich es nennen. Er hatte eine breite Stirn und ein gruseliges Lächeln, so als könnte er nicht richtig … die Lippen bewegen.«
Healy und ich wechselten Blicke. Die Milton-Sykes-Maske .
»Hat er mit Ihnen gesprochen?«
»Ja, aber nur durch so eine Art Mikrofon. Es war immer ein statisches Knistern dabei. Eine Rückkopplung. In dem ganzen Gebäude, wo ich eingesperrt war, waren Lautsprecher verteilt, damit ich seine Stimme stets ganz aus der Nähe hören musste. Es war …« Sie hielt inne. »Es hat mir Angst gemacht. Warum mag er das getan haben?«
»Damit er jederzeit mit Ihnen reden konnte«, antwortete ich. »Er konnte etwas sagen, Sie erschrecken und Ihnen alles Mögliche mitteilen, ohne im gleichen Raum sein zu müssen wie Sie.«
Sie nickte.
»Wie sind Sie entkommen?«, fragte Healy.
»Ich bin aufgewacht«, erwiderte sie. »Das war offenbar nicht so geplant. Er hat mich betäubt und wollte mich …« Eine Pause. Aufschlitzen . »Aber ich bin eben aufgewacht.« Kurz spähte sie hinter sich ins Bad. »Manchmal, wenn ich mich im Spiegel sehe, bedaure ich es.«
In der Originalakte, die Healy mir vorhin gegeben hatte, stand, sie litte an Hypopigmentation, also dem kompletten Verlust der Hautfarbe als Folge eines chemischen Peelings, das zu tief eingedrungen sei. Man hatte in ihrer Haut Phenol und geringe Spuren von Krotonöl gefunden, beides Substanzen, die in der plastischen Chirurgie zum Abtragen von Hautschichten verwendet wurden. Dadurch wurde das Gesicht gestrafft, und Falten wurden beseitigt. Allerdings hatte das Peeling zu viel von Sonas Gesicht weggeätzt und Pigmentierung
und Sommersprossen ausgelöscht. Er hatte ihre Haut wochenlang auf die Behandlung vorbereitet, indem er sie angewiesen hatte, zweimal täglich eine Feuchtigkeitslotion aufzutragen. Doch das Ergebnis war tragisch gewesen.
Und das machte mich argwöhnisch.
Glas mochte seine Brötchen als Mietchirurg verdienen, aber seine Arbeit war alles andere als amateurhaft. Er war präzise. Gründlich. Verwischte seine Spuren. Außerdem hätte er gewusst, wie weit man bei einem Gesichtspeeling gehen durfte, selbst wenn das Ergebnis vielleicht nicht so gut gewesen wäre, wie wenn man in einer Klinik im Londoner Westen eine fünfstellige Summe dafür hinblätterte. Warum also hatte er so viel Haut weggeätzt? Und weshalb war der Eingriff überhaupt nötig gewesen? Hatte er einfach Spaß daran, Frauen zu verstümmeln? Ich hatte da meine Zweifel. Ein Mann wie er ging immer planvoll vor. Er operierte an Frauen herum, weil es einen ganz bestimmten Zweck für ihn erfüllte.
Ich beobachtete, wie Sona sich mit dem Finger übers Gesicht, den Nasenrücken und die Narbe am Haaransatz strich. Die Nase sah zum Fürchten aus, würde aber wieder heilen. Die Narben an den Ohren waren zwar blutrot, doch auch das würde besser werden. In der Akte wurden ihre Verletzungen als »Anfangsstadium einer Rhinoplastik und Rhytidektomie«, also einer Nasen-OP und einer Gesichtsstraffung, bezeichnet. Während der Nasen-OP hatte er von innen her gearbeitet und den Knochenbogen abgefeilt. Das erklärte den Bluterguss
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