Blutiges Schweigen
der Gründung der SOCA ganz oben auf der Liste der gesuchten Personen.«
»Und warum heißt er ›der Geist‹?«
»Weil niemand sicher ist, ob er überhaupt noch lebt.«
»Oh.«
»Beim NCIS wurde gewitzelt, Gobulev läge entweder längst unter der Erde oder habe die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen. Obwohl man ihm alle möglichen Straftaten — von Menschenhandel, Zuhälterei, Drogenhandel bis hin zu Geldwäsche — nachweisen kann, ist er schon seit Jahren niemandem mehr über den Weg gelaufen. Der einzige Hinweis auf seine Existenz ist ein über zehn Jahre alter Computereintrag am Flughafen Heathrow. Er kam mit einer Maschine aus Moskau und hat sich ab diesem Moment in Luft aufgelöst.«
»Franks Freund sagte, sie seien ihm dicht auf der Spur.«
»Wirklich?«
»Das hat er wenigstens behauptet.«
»Und war der Typ im Lagerhaus Gobulev?«
Wieder griff sie nach der Kaffeetasse. »Nein, ich glaube nicht. Er hat erzählt, er habe von einem Kollegen bei der Sonderkommission gehört, dieser Gobulev habe sich operieren lassen.«
»Was für eine Operation war das?«
»Ich bin nicht sicher. Doch sie haben seinen Chirurgen ausfindig gemacht.«
Ich beugte mich vor. »Und das war der Mann im Lagerhaus?«
»Ja.«
»Gobulevs Chirurg hat Frank getötet?«
»Ja«, antwortete sie wieder. »Sein Freund sagte, die Sonderkommission habe nicht viele Informationen über diesen
Chirurgen gehabt. Er sollte in dem Lagerhaus festgenommen werden, um sie zu Gobulev zu führen.«
»Was hat er sonst noch gesagt?«
»Ich glaube, mehr wusste er nicht.«
»Auch nicht den Namen des Chirurgen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
Eine Träne stieg ihr ins Auge. Sie wischte sie rasch weg, doch es folgte sofort die nächste, die ihr die Wange hinunterrann.
»Das tut mir wirklich leid, Jill«, erwiderte ich leise.
Nach einer Weile hob sie den Kopf. Ein entschuldigender Ausdruck malte sich auf ihrem Gesicht. Ihr war klar, dass sie mich in eine peinliche Lage brachte, doch sie war machtlos gegen ihre Tränen. Ich betrachtete sie, beobachtete sie und ließ ihre Worte Revue passieren.
»Ich habe einen Vorschlag für dich. Ich klemme mich mal ans Telefon und schaue, ob ich noch etwas herausfinde. Allerdings kann ich nichts versprechen.«
»David, du musst nicht …«
»Schon gut. Ich habe einen anderen Fall, der natürlich Priorität hat. Aber wenn ich damit fertig bin, höre ich mich für dich um, einverstanden?«
Da sie keinen Ton herausbrachte, nickte sie nur.
»Es könnten … schmerzliche Dinge dabei herauskommen.«
»Ich weiß«, antwortete sie leise. »Doch schlimmer als die Ungewissheit kann es nicht sein.«
Es war vier Uhr, als ich von Jill zurückkam. Der Mülleimer, den ich immer vor dem Haus stehen hatte, war umgekippt. Schwarze Müllsäcke lagen verstreut auf dem Gehweg. Außerdem stand die Schiebetür zur Veranda offen. Ich rüttelte an der Eingangstür.
Abgeschlossen.
Ich trat von der Veranda herab und ging eine Runde ums Haus. Nichts war verändert worden. Alles sah aus wie immer. Ich ließ oft versehentlich die Tür zur Veranda offen. Und als ich wieder die Vorderseite des Hauses erreichte, huschte eine Katze aus der Dunkelheit quer über meinen Rasen und auf die Straße hinaus. Sie hatte etwas Essbares im Maul, das sie vermutlich aus einem Loch in den herausgefallenen Müllbeuteln geangelt hatte. Ich stopfte die Beutel zurück in die Tonne und ging ins Bett.
12
Da ich bis vier Uhr nachts unterwegs gewesen war, schlief ich aus. Nachdem ich geduscht und gefrühstückt hatte, war es fast Mittag. Ich fuhr ins Büro.
Inzwischen nutzte ich es längst nicht mehr so häufig wie früher. Anfangs war es eine Möglichkeit gewesen, Privates und Berufliches zu trennen und meiner Tätigkeit etwas Seriöses zu geben. Seit Derryns Tod war es jedoch nur noch ein teurer Klotz am Bein. Allerdings würde der Mietvertrag ohnehin in dreißig Tagen auslaufen. Dann würde ich von zu Hause aus arbeiten, und ein weiterer Teil meines alten Lebens würde verschwunden sein.
Ich drehte mich mit meinem Bürostuhl und betrachtete die Pinnwand hinter mir. Eine Wand voller Vermisster. Ganz oben hing der Fall Megan Carver. Ich stand auf, griff nach dem Foto, setzte mich wieder und betrachtete es. Was ist passiert, Megan? Was verschweigt deine Mutter? Langsam drehte ich mich mit dem Stuhl um die eigene Achse, fuhr Megans Gesicht mit dem Finger nach und überlegte.
Kurz darauf erwachte mein Telefon zum Leben.
Ich warf einen
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