Blutland - Von der Leidenschaft gerufen
kleines Dorf auftauchen, durch das die unbefestigte Straße hindurchführte. Es sah wie die Kulisse einer Geisterstadt im Wilden Westen aus. Die Gebäude hatten falsche Häuserfronten und waren in eigenartig gedämpften Tönen gestrichen. Malve, taubenblau, senfgelb. Ein paar Leute huschten verstohlen zwischen den Gebäuden herum, aber es waren nicht annähernd so viele, wie ich erwartet hätte. Alle trugen Kleidung in verschiedenen Grau- und Schwarztönen, was nach dem, was ich bisher in Sang gesehen hatte, ungewöhnlich war.
Criminy steuerte unsere Stute zwischen zwei stabile Pfosten, die am Stadtrand in den Boden getrieben waren. Er glitt von ihrem Rücken und half mir herunter. Sie schlug mit dem Schweif, tänzelte und schaute hoffnungsvoll zwischen mir und Criminy hin und her. Wahrscheinlich hoffte sie, dass ihr ungeliebter Herr ihr eine Pinkiezehe von mir anbieten würde, als Belohnung für ihr gutes Benehmen. Vom nächsten Gebäude kam ein Junge angeflitzt und band Erris am Maulkorb mit einer Kette an dem Pfosten fest. Die große Stute warf den Kopf hoch, schnaubte und versuchte zu steigen, aber sie war sicher festgemacht.
Criminy tätschelte ihr den Hals und sagte: »Tut mir leid, Mädchen. Es ist nur für kurze Zeit. Bald bist du wieder frei«, und warf dem Jungen eine Münze zu.
Als der aufsah und den Kupferling eifrig auffing, konnte ich am offenen Kragen und seinen überaus spitzen Zähnen sehen, dass er, so wie die Gassenkinder bei der Kathedrale, auch zum Bludvolk gehörte. Nach einem Leben voller Filme und Bücher, die sich mir ins Gedächtnis eingeprägt hatten, konnte ich immer noch nicht glauben, dass Bludleute in dieser Welt Kinder zeugen konnten. Dass dieser kleine Kerl hier aufwachsen würde, ohne etwas anderes als Blut zu kennen – keine Kekse, keine Eiscreme, keine Törtchen. Dennoch war sein Lächeln strahlend und unschuldig, selbst wenn er niemals von Süßigkeiten träumen würde.
»Danke Ihnen sehr, Sir«, sagte er. »Wollen Sie dann zum Gasthaus?«
Criminy betrachtete die Sonne: Es war später Nachmittag, und der Himmel war trübe, wie die leicht verfärbte Milch am Boden einer Cornflakesschale.
»Gibt es nur eines hier?«, fragte er den Jungen. »Und wo sind die Copper?«
»Feverish ist nur ein kleines Dorf, Sir. Die Copper kommen nur einmal im Monat her, um den Zehnt für Brighton einzutreiben. Wir haben nur ein Gasthaus. Und das hier ist unser einziger Anbindeplatz.«
Criminy lächelte verstehend und gab dem Jungen noch eine Münze.
»Ich bringe Sie hin, Sir.«
Der Junge trabte uns voran in das Dorf. Ich sah, dass seine Kleidung schon viele Male ausgebessert worden war: Seine Hosen waren mit Flicken in ähnlichen dunklen Farben besetzt und die Schuhe an den Absätzen abgestoßen. Die Gebäude hatten einen frischen Anstrich nötig. Deshalb waren die Farben so seltsam – sie waren ausgebleicht. Es war ein ärmliches kleines Nest, ein einsamer Vorposten vor der großen Stadt am Meer.
Der Junge hielt vor dem einzigen dreistöckigen Gebäude an: »Hier ist es, Sir. Und bitte erwähnen sie die Copper nicht vor Master Haggard. Die haben letztes Jahr seine Frau ausgeblutet, und deshalb versteht er da keinen Spaß.« Damit rannte er davon.
Wir schauten zu der meergrünen Fassade auf. Das Schild zeigte einen schwarzen Diamanten, weiß umrandet, und darunter die Worte Haggard Inn in schwerer, seriöser Schrift. Nicht gerade der verheißungsvollste Name für ein Hotel.
Criminy hielt mir die Tür auf, und eine Glocke ertönte, als wir eintraten. Auf dem Tresen saß eine flauschige weiße Katze, die uns herablassend beäugte. Glückliches Geschöpf – nachdem hier so gar keine Pinkies in der Gegend waren, mussten die Bludratten Feverish verlassen haben. Der Raum war karg aber sauber, die Böden ohne Flecken, und grünes Glas funkelte in den Fenstern. Ein altes Grammophon, das einer riesigen Lilie aus Messing ähnelte, spielte ein Klagelied. Ich kam mir vor wie in einem Bestattungsinstitut.
Aus dem Hinterzimmer tauchte ein Mann auf: Sein staubgrauer Anzug und das rüschenbesetzte Jabot mit Teeflecken wirkte wie aus einer anderen Zeit, aber seine traurigen, alten Augen verrieten Stolz und Würde.
»Haben Sie ein freies Zimmer für uns, Master Haggard?«, fragte Criminy mit einer vornehmen Verbeugung. So ehrerbietig hatte ich ihn noch nie erlebt.
»Haben wir, Junge«, antwortete der Mann mit sonorer und ernster Stimme. »Ein Zimmer oder zwei?«
Es war, als würde man einer Statue
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