Blutmale
Leben war zu groß, als dass sie durch eine echte Freundschaft überbrückt werden könnte. Und was habe ich denn schon mit dieser unmöglichen Frau gemeinsam, mit ihrer groben, unsensiblen Art und ihren gusseisernen Moral vorstellungen? Nichts, rein gar nichts.
Zusammen betraten sie die Notaufnahme, und ein eisiger Windstoß wehte mit ihnen herein, ehe die Automatiktür sich schloss. Jane steuerte gleich den Aufnahmeschalter an und rief: »Hallo? Kann man hier vielleicht mal eine Information bekommen?«
»Sind Sie Detective Rizzoli?«, ertönte eine Stimme hinter ihnen.
Sie hatten den Mann, der allein im Patienten-Wartebereich gesessen hatte, glatt übersehen. Jetzt stand er vor ihnen: bleiches Gesicht, jagdgrüner Pullover und Tweedjacke. Kein Polizist, schätzte Maura, als sie seine zerzauste Mähne sah, und er bestätigte ihre Vermutung umgehend.
»Ich bin Dr. Kibbie«, stellte er sich vor. »Ich dachte mir, ich warte besser hier am Eingang auf Sie, dann müssen Sie nicht lange nach dem Weg zur Leichenhalle suchen.«
»Danke, dass Sie sich heute Abend Zeit für uns nehmen«, sagte Jane. »Das ist Dr. Isles, unsere Rechtsmedizinerin.«
Maura gab ihm die Hand. »Sie haben die Leiche schon obduziert?«
»O nein. Ich bin kein Rechtsmediziner, sondern nur ein bescheidener Internist. Wir sind hier vier Kollegen, die im Wechsel die Aufgaben des Leichenbeschauers von Chenango County übernehmen. Ich führe die vorläufige Todesermittlung durch und entscheide, ob eine Leichenöffnung erforderlich ist. Die eigentliche Obduktion wird wahrscheinlich morgen Nachmittag stattfinden - vorausgesetzt, der Rechtsme diziner von Onondaga County schafft es, von Syracuse hierherzukommen.«
»Aber Sie müssen doch in diesem Bezirk Ihren eigenen Rechtsmediziner haben.«
»Ja, aber in diesem speziellen Fall …« Kibbie schüttelte den Kopf. »Wir wissen leider jetzt schon, dass dieser Mord großes Aufsehen erregen wird. Das öffentliche Interesse wird gewaltig sein. Und außerdem steht uns vielleicht irgendwann ein sensationeller Strafprozess ins Haus. Deshalb wollte unser Rechtsmediziner bei diesem Fall lieber noch jemanden von auswärts hinzuziehen. Um das Obduktionsergebnis so unangreifbar wie möglich zu machen. Vier Augen sehen mehr als zwei, Sie wissen schon.« Er nahm seinen Mantel vom Stuhl. »Der Aufzug ist da drüben.«
»Wo ist Detective Jurevich?«, fragte Jane. »Ich dachte, er wollte sich hier mit uns treffen.«
»Joe wurde leider vor einer Weile zu einem Einsatz geru fen und muss den Termin mit Ihnen deshalb verschieben. Er sagte, er würde sich gleich morgen früh drüben beim Haus mit Ihnen treffen. Rufen Sie ihn einfach an.« Kibbie holte tief Luft. »Nun denn, sind Sie bereit?«
»Ist es wirklich so schlimm?«
»Lassen Sie es mich mal so ausdrücken: Ich hoffe sehr, dass mir so ein Anblick in Zukunft erspart bleibt.«
Sie gingen zusammen den Flur entlang zum Aufzug, wo er den Abwärts-Knopf drückte.
»Nach zwei Wochen ist sie wohl nicht mehr in der allerbesten Verfassung?«, meinte Jane.
»Nun, die Verwesungserscheinungen sind im Grunde minimal. Das Haus stand leer. Keine Heizung, kein Strom. Da drin ist es wahrscheinlich knapp unter null Grad. Ist praktisch wie in einem Kühlhaus.«
»Wie ist sie dort hingekommen?«
»Wir haben keine Ahnung. Es gab keine Spuren eines Einbruchs, also muss sie einen Schlüssel gehabt haben. Oder der Mörder.«
Die Aufzugstür ging auf, und sie traten ein, Kibbie flankiert von den beiden Frauen. Eine Art Puffer zwischen Maura und Jane, die immer noch kein Wort miteinander gesprochen hatten, seit sie aus dem Wagen gestiegen waren.
»Wem gehört das leerstehende Haus?«, fragt Jane.
»Einer Frau, die inzwischen nicht mehr im Staat New York lebt. Sie hat es von ihren Eltern geerbt und versucht seit Jahren vergeblich, es zu verkaufen. Wir haben sie noch nicht erreichen können. Nicht einmal die Maklerin weiß, wo sie zu finden ist.« Sie hatten das Untergeschoss erreicht und traten aus dem Lift. Kibbie führte sie durch einen Korridor zum Vorraum der Leichenhalle.
»Da sind Sie ja, Dr. Kibbie.« Eine junge blonde Frau in OP-Kleidung legte den Liebesroman weg, in dem sie geschmökert hatte, und stand auf, um sie zu begrüßen. »Ich habe mich schon gefragt, ob Sie überhaupt noch hier unten vorbeischauen.«
»Danke, dass Sie gewartet haben, Lindsey. Das sind die zwei Damen aus Boston, von denen ich Ihnen erzählt habe. Detective Rizzoli und Dr. Isles.«
»Sie sind den
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