Blutmale
vorbeigeschaut«, sagte er. »Ich hatte gehofft, dich zu Hause anzutreffen.«
»Ich komme erst morgen zurück.«
»Wo bist du jetzt?«
»Ich bin mit Jane im Auto unterwegs. Wir sind jetzt kurz hinter Albany.«
»Du bist in New York? Wieso?«
»Es wurde ein weiteres Opfer gefunden. Wir glauben …« Janes Hand schloss sich plötzlich um ihren Arm, eine unmissverständliche Warnung: Je weniger sie preisgab, desto besser. Jane traute ihm nicht mehr - nachdem er sich nun als allzu menschlich erwiesen hatte. »Ich kann nicht darüber reden«, sagte sie.
Es war eine Weile still am anderen Ende. Dann sagte er leise: »Ich verstehe.«
»Es gibt gewisse Einzelheiten, die wir vertraulich behandeln müssen.«
»Du musst mir nichts erklären. Ich kenne die Regeln.«
»Kann ich dich später zurückrufen?« Wenn niemand mit hört.
»Das ist nicht nötig.«
»Ich will es aber.« Ich brauche es.
Sie legte auf und starrte in die Dunkelheit hinaus, die nur von den Scheinwerferkegeln ihres Wagens durchbrochen wurde. Sie hatten den Turnpike hinter sich gelassen und fuhren nun in südwestlicher Richtung auf einer Straße, die zwischen schneebedeckten Feldern hindurchführte. Hier sah sie kein Licht, bis auf das eine oder andere Auto, das ihnen entgegenkam, und hier und da die Fenster eines Bauernhauses in der Ferne.
»Du wirst mit ihm nicht über den Fall reden, oder?«, fragte Jane.
»Und wenn ich es täte - er ist hundertprozentig verschwiegen. Ich habe ihm immer vertraut.«
»Tja - das habe ich auch.«
»Soll das heißen, dass du es jetzt nicht mehr tust?«
»Du bist verknallt, Maura. Nicht die beste Voraussetzung für ein objektives Urteil.«
»Wir beide kennen diesen Mann.«
»Und ich hätte nie gedacht …«
»Was - dass er mit mir schlafen würde?«
»Ich sage nur, es kann sein, dass du glaubst, einen Menschen zu kennen - bis er dich irgendwann überrascht. Bis er etwas tut, womit du nie gerechnet hättest. Und dann wird dir klar, dass du keinen Menschen wirklich kennst. Keinen . Wenn du mir vor ein paar Monaten erzählt hättest, dass mein Dad meine Mom wegen irgendeiner blonden Tussi verlassen würde, ich hätte dich für verrückt erklärt. Ich sag dir, die Menschen sind ein verdammtes Rätsel. Sogar die, die wir lieben.«
»Und jetzt vertraust du Daniel nicht mehr.«
»Nicht, wenn es um dieses Keuschheitsgelübde geht.«
»Davon rede ich nicht. Ich rede von dieser Ermittlung. Darüber, ob ich mit ihm über Punkte reden kann, die uns beide betreffen.«
»Er ist kein Polizist. Er muss überhaupt nichts darüber erfahren.«
»Er war letzte Nacht bei mir. Diese Worte an meiner Tür waren auch an ihn gerichtet.«
» Ich habe gesündigt - meinst du das?«
Mauras Gesicht begann plötzlich zu glühen. »Ja«, sagte sie.
Einen Moment lang fuhren sie schweigend weiter. Die einzigen Geräusche waren das Surren der Reifen auf dem Asphalt und das Zischen des Gebläses.
»Ich habe Brophy immer respektiert, okay?«, sagte Jane. »Er hat viel für das Boston PD getan. Wenn wir mal einen Priester am Tatort brauchen, ist er sofort zur Stelle, auch mitten in der Nacht. Ich habe ihn gemocht.«
»Und warum hast du dich plötzlich gegen ihn gewandt?«
Jane sah sie an. »Weil ich dich zufällig auch mag.«
»Den Eindruck vermittelst du mir gerade nicht.«
»Ach ja? Aber wenn du etwas dermaßen Unerwartetes tust, etwas so Selbstzerstörerisches, dann frage ich mich schon …«
»Was?«
»Ob ich dich wirklich kenne.«
Es war schon nach acht, als sie endlich auf den Parkplatz des Lourdes Hospital in Binghamton einbogen. Maura war nicht nach Smalltalk zumute, als sie aus dem Wagen stieg und ihre von der langen Fahrt steifen Glieder streckte. Sie hatten nur eine kurze Pause gemacht, um an einer Raststätte schweigend eine Mahlzeit einzunehmen. Von Janes Fahrstil und dem hastig hinuntergeschlungenen Essen war ihr schon ganz flau im Magen - vor allem aber von der Anspannung zwischen ihnen, die inzwischen so angewachsen war, dass es jeden Mo ment zum großen Knall kommen konnte. Sie hat nicht das Recht, über mich zu urteilen , dachte Maura, als sie an Bergen von geräumtem Schnee vorbeistapften. Jane war glücklich verheiratet, da konnte sie leicht vom hohen Ross ihrer mo ralischen Überlegenheit auf Maura herabblicken. Was wusste sie denn von Mauras Leben, von den Abenden, an denen sie allein zu Hause hockte, sich alte Spielfilme ansah oder dem leeren Haus ein Klavierkonzert gab? Die Kluft zwischen ih rem und Janes
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