Blutmale
relativ wenig abgenutzten Randbereiche ließen keinen Zweifel an der hohen Qualität der dichten Wolle und dem handwerklichen Können des Webers. Sie senkte den Blick und bewunderte das kunstvoll verschlungene Rankenmuster, in dessen Mitte auf burgunderfarbenem Hintergrund ein Einhorn zu sehen war, das im Schutz eines Hains ruhte. Plötzlich bekam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie auf einem solchen Meisterwerk herumtrampelte, und trat vom Teppich auf das Parkett, näher an den Kamin.
Wieder stand sie vor dem Porträt über dem Kaminsims. Wieder hob sie den Blick zu den stechenden Augen des Priesters - Augen, die sie unverwandt anzustarren schienen.
»Es ist seit Generationen im Besitz meiner Familie. Verblüffend, nicht wahr, wie lebhaft die Farben noch heute sind? Auch nach vier Jahrhunderten.«
Maura drehte sich um und sah den Mann an, der soeben das Zimmer betreten hatte. Er hatte sich auf leisen Sohlen hereingeschlichen, und Maura erschrak, als wäre hinter ihrem Rücken plötzlich ein Geist aufgetaucht. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Der Mann trug einen dunklen Rollkragenpullover, der den Effekt seiner silbernen Haarpracht noch verstärkte. Sein Gesicht jedoch wirkte nicht älter als fünfzig. Wären sie einander nur zufällig auf der Straße begegnet, sie hätte ihn dennoch angestarrt, allein wegen seiner faszinierenden Züge, die ihr auf unheimliche Weise bekannt vorkamen. Sie registrierte die hohe Stirn, die aristokratische Haltung. Die Flammen spiegelten sich in seinen dunklen Augen, sodass es schien, als leuchteten sie von innen. Er hatte das Gemälde als ein Erbstück bezeichnet, und sogleich fiel ihr die Familienähnlichkeit zwischen dem Porträt und dem Menschen aus Fleisch und Blut auf. Die Augen waren die gleichen.
Er streckte die Hand aus. »Hallo, Dr. Isles. Ich bin Anthony Sansone.« Der Blick, mit dem er sie fixierte, war so intensiv, dass sie sich fragte, ob sie sich vielleicht schon einmal begegnet waren.
Nein. An einen so attraktiven Mann würde ich mich ganz bestimmt erinnern.
»Freut mich, Sie endlich kennenzulernen«, sagte er, während er ihr die Hand schüttelte. »Nachdem ich schon so viel über Sie gehört habe.«
»Von wem?«
»Von Dr. O'Donnell.«
Maura hatte das Gefühl, dass ihre Hand in der seinen plötzlich eiskalt wurde, und sie zog sie zurück. »Ich wüsste nicht, wieso sie über mich sprechen sollte.«
»Sie hatte nur Gutes über Sie zu sagen. Glauben Sie mir.«
»Das überrascht mich.«
»Warum?«
»Weil ich das Gleiche von ihr nicht behaupten kann«, erwiderte sie.
Er nickte wissend. »Sie kann sehr abschreckend wirken. Bis man die Gelegenheit bekommt, sie näher kennenzulernen. Und erkennt, wie wertvoll ihre Einsichten sind.«
Die Tür wurde so lautlos geöffnet, dass erst das dezente Klirren von Porzellan Maura auf das Eintreten des Butlers aufmerksam machte. Er trug ein Tablett mit Tassen und einer Kanne Kaffee herein, das er auf einem Beistelltisch absetzte, warf Sansone einen fragenden Blick zu und zog sich wieder zurück. Kein Wort war zwischen den beiden gesprochen worden; die einzige Kommunikation hatte in diesem Blick und einem Nicken als Erwiderung bestanden. Diese beiden Männer kannten einander offenbar so gut, dass sie sich auch ohne Worte verständigen konnten.
Sansone bedeutete ihr, Platz zu nehmen, und Maura ließ sich auf einen der mit gestreifter Seide bezogenen Empire-Lehn stühle sinken.
»Ich muss Sie um Entschuldigung bitten, weil ich Sie hier im Salon empfange«, sagte er. »Aber die Bostoner Polizei scheint alle anderen Zimmer für ihre Vernehmungen mit Beschlag belegt zu haben.« Er schenkte Kaffee ein und gab ihr eine Tasse. »Sie haben das Opfer bereits untersucht?«
»Ich habe sie gesehen.«
»Was denken Sie?«
»Sie wissen, dass ich dazu nichts sagen kann.«
Er wirkte vollkommen entspannt, als er sich in seinem Stuhl mit dem blauen und goldenen Brokatbezug zurücklehnte. »Ich spreche nicht von der Leiche selbst«, sagte er. »Mir ist durchaus klar, warum Sie über Ihre medizinischen Erkenntnisse nicht sprechen dürfen. Ich meinte die Tat an sich. Den Gesamteindruck des Verbrechens.«
»Da sollten Sie die leitende Ermittlerin fragen. Detective Rizzoli.«
»Ich interessiere mich einfach nur für Ihre Eindrücke.«
»Ich bin Ärztin und keine Kriminalbeamtin.«
»Aber ich könnte mir vorstellen, dass Sie besser als die meisten verstehen, was heute Abend in meinem Garten passiert ist.« Er beugte sich vor, die
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