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Blutmale

Blutmale

Titel: Blutmale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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zwischen den dicht gedrängten Ständen umher, blieb kurz stehen, um in Eimern mit Modeschmuck und unechten römischen Münzen zu wühlen, und ging anschließend zu den Antiquitätenständen auf der Piazza Ippolito Nieve weiter. Irgendwie landete sie jeden Sonntag frü her oder später in diesem Teil des Marktes, denn es waren die alten, die antiken Dinge, die sie am meisten interessierten.
    Ein Fetzen von einem mittelalterlichen Wandteppich oder auch nur ein schlichtes Stückchen Bronze ließen ihr Herz gleich höher schlagen. Als sie bei den Antiquitäten ankam, wa ren die meisten Händler schon damit beschäftigt, ihre Ware wegzuschaffen, und sie sah nur noch einige wenige offene Stände, deren Auslagen dem Nieselregen ausgesetzt wa ren. Sie spazierte an den armseligen Angeboten vorbei, an den Händlern mit ihren müden, mürrischen Gesichtern, und wollte eben die Piazza verlassen, als ihr Blick auf ein kleines Holzkästchen fiel. Sie blieb abrupt stehen und starrte es an.
    Drei umgedrehte Kreuze waren in den Deckel geschnitzt.
    Ihr regenfeuchtes Gesicht fühlte sich plötzlich an, als trüge sie eine Maske aus Eis. Dann merkte sie, dass das Kästchen mit dem Scharnier zu ihr stand, und mit einem verlegenen Lachen drehte sie es um, sodass sie es von vorn betrachten konnte. Die Kreuze standen jetzt richtig herum. Wenn man zu angestrengt nach dem Bösen Ausschau hielt, sah man es plötzlich überall. Auch da, wo es nicht ist.
    »Sie interessieren sich für religiöse Artikel?«, fragte der Händler auf Italienisch.
    Sie blickte auf und sah ein runzliges Gesicht, dessen Au gen fast ganz zwischen Hautfalten verschwanden. »Danke, ich schaue mich nur um.«
    »Bitte sehr. Da ist noch mehr.« Er schob eine Kiste vor sie hin, und sie sah verschlungene Rosenkränze, eine holzgeschnitzte Madonna und alte Bücher, deren Seiten sich in der feuchten Luft wellten. »Schauen Sie, schauen Sie! Lassen Sie sich nur Zeit.«
    Auf den ersten Blick entdeckte sie in der Kiste nichts, was sie interessierte. Dann sah sie sich den Rücken eines der Bücher genauer an. Der Titel war in goldenen Lettern in das Leder geprägt: Das Buch Henoch.
    Sie nahm das Buch und schlug die Titelseite auf. Es war die englische Übersetzung von R. H. Charles, erschienen 1912 bei Oxford University Press. Vor zwei Jahren hatte sie in einem Museum in Paris einen jahrhundertealten Fetzen der äthiopischen Fassung gesehen. Das Buch Henoch war ein an
    tiker Text, ein Teil der apokryphen Literatur.
    »Es ist sehr alt«, sagte der Händler.
    »Ja«, raunte sie, »das ist es.«
    »Da steht ›1912‹.«
    Und diese Worte sind noch viel älter , dachte sie, während sie mit dem Finger über die vergilbten Seiten fuhr. Dieser Text war zweihundert Jahre vor Christi Geburt entstan den. Es waren Geschichten aus einer Zeit vor Noah und seiner Arche, vor Methusalem. Sie blätterte in dem Buch und hielt inne, als sie auf eine mit Tinte unterstrichene Passage stieß.
    Böse Geister werden hervorgehen aus ihrem Fleisch, weil sie geschaffen wurden von oben; von den heiligen Wächtern war ihr Anfang und ihre ursprüngliche Gründung. Böse Geis ter werden sie sein auf Erden, und Geister der Gottlosen wer den sie genannt werden.
    »Ich habe noch viel mehr von seinen Sachen«, sagte der Händler.
    Sie blickte auf. »Von wessen Sachen?«
    »Von dem Mann, dem das Buch da gehört hat. Das ist alles von ihm.« Er schwenkte die Hand über die Kisten. »Er ist letzten Monat gestorben, und jetzt muss alles verkauft werden. Wenn Sie sich für so was da interessieren - ich habe hier noch eins, das sieht ganz genauso aus.« Er bückte sich, um in einer anderen Kiste zu kramen, und fischte ein schma les Buch mit fleckigem, angestoßenem Ledereinband heraus. »Der selbe Autor«, sagte er. »R. H. Charles.«
    Nicht derselbe Autor, dachte sie, sondern derselbe Übersetzer. Es war eine Ausgabe des Buchs der Jubiläen aus dem Jahr 1913 - auch dies ein heiliger Text aus vorchristlicher Zeit. Sie hatte zwar schon von dem Titel gehört, aber gelesen hatte sie das Buch nie. Sie schlug es auf, und die Seiten teil ten sich bei Kapitel 10, Vers 5, einer Passage, die ebenfalls mit Tinte unterstrichen war.
    Und du weißt, wie deine Wächter, die Väter dieser Geister, in meinen Tagen gehandelt haben; und diese Geister, die im Leben sind - schließe sie ein und halte sie fest am Ort der Verdammnis, damit sie nicht die Kindeskinder deines Knechtes verderben, mein Gott. Denn schaurig sind sie und geschaffen,

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