Blutmale
um zu verderben.
An den Rand waren mit der gleichen Tinte die Worte gekritzelt: Die Söhne Seths. Die Töchter Kains.
Lily klappte das Buch zu und bemerkte plötzlich die braunen Flecken auf dem Einband. Blut?
»Möchten Sie es kaufen?«
Sie blickte auf. »Was ist mit diesem Mann passiert? Dem Mann, dem diese Bücher gehört haben?«
»Das habe ich Ihnen doch gesagt - er ist gestorben.«
»Wie?«
Achselzucken. »Er hat allein gelebt. Er war sehr alt, sehr son derbar. Sie haben ihn in seiner Wohnung gefunden. Er hatte sich eingeschlossen, und diese ganzen Bücher waren hinter der Tür gestapelt. So, dass er gar nicht mehr rauskonnte. Verrückt, wie?«
Verrückt vor Angst vielleicht , dachte sie. Angst vor dem, was draußen auf ihn lauerte.
Sie starrte das zweite Buch an und sah im Geist seinen Besitzer vor sich, tot in seiner verbarrikadierten, mit Plunder vollgestopften Wohnung liegend, und sie konnte beinahe den Geruch des verwesenden Fleischs riechen, der von den Seiten aufstieg. Sosehr sie sich vor den Flecken auf dem Leder ekelte, sie wollte dieses Buch haben. Sie wollte wissen, warum der Be sitzer diese Worte an den Rand gekritzelt hatte, und ob er noch mehr geschrieben hatte.
»Fünf Euro«, sagte der Händler.
Diesmal feilschte sie ausnahmsweise nicht lange, sondern zahlte gleich den geforderten Preis und ging mit dem Buch davon.
Draußen regnete es inzwischen in Strömen, als sie durch das feuchte Treppenhaus zu ihrer Wohnung hinaufstieg. Und es regnete den ganzen Nachmittag, während sie am Fenster saß und im Licht des grauen Tages las. Sie las von Seth, dem drit ten Sohn Adams. Seth zeugte Enos, welcher Kenan zeugte. Es war dasselbe vornehme Geschlecht, aus dem später die Patriarchen Jared und Henoch, Methusalem und Noah hervorgingen. Doch aus der gleichen Wurzel entsprangen auch verdorbene Söhne, böse Söhne, die mit den Töchtern eines ermor deten Vorfahren schliefen.
Den Töchtern Kains.
Lily verweilte bei einer weiteren unterstrichenen Passage. Worte, vor langer Zeit hervorgehoben von jenem Mann, dessen Schatten nun hinter ihr zu schweben und ihr über die Schulter zu blicken schien, der seine Geheimnisse mit ihr teilen, ihr seine Warnungen ins Ohr flüstern wollte.
Und die Gewalttätigkeit nahm zu auf der Erde, und alles Fleisch verderbte seinen Wandel vom Menschen bis zum Vieh und bis zu den Tieren und bis zu den Vögeln und bis zu allem, das auf der Erde wandelt. Sie alle verderbten ihren Wandel und ihre Sitte und begannen, sich gegenseitig zu ver schlingen, und die Gewalttätigkeit nahm zu auf der Erde, und alle Gedanken des Erkennens aller Menschen waren so böse alle Tage.
Das Tageslicht begann zu schwinden. So lange saß sie nun schon hier, dass sie ihre Beine nicht mehr spürte. Draußen trommelte der Regen noch immer an die Fensterscheibe, und durch die Straßen Roms wälzte sich der Verkehr, dröhnend und hupend. Aber hier in ihrem Zimmer saß sie in benommenem Schweigen. Ein Jahrhundert vor Christus, vor den Aposteln, waren diese Worte schon alt gewesen, Worte über einen Schrecken aus grauer Vorzeit, so alt, dass die Menschheit sich heute nicht mehr daran erinnerte, dass sie seine Gegenwart nicht mehr bemerkte.
Wieder fiel ihr Blick auf das Buch der Jubiläen , auf die ominösen Worte Noahs, gerichtet an seine Söhne: Denn ich sehe, wie böse Geister euch und eure Kinder zu verführen be gonnen haben; jetzt aber fürchte ich betreffs eurer, dass ihr, wenn ich gestorben bin, Menschenblut auf der Erde vergießt, und dass auch ihr von der Oberfläche der Erde vertilgt werdet.
Die bösen Geister sind immer noch unter uns , dachte sie. Und das Blutvergießen hat schon begonnen.
26
Jane und Maura fuhren auf dem Massachusetts Turnpike Rich tung Westen. Jane saß am Steuer, während draußen die karge Landschaft aus schneebedeckten Feldern und kahlen Bäumen vorüberflog. Selbst an diesem Sonntagnachmittag muss ten sie die Straße mit einem ganzen Konvoi von Schwerlastern teilen, zwischen denen Janes Subaru sich ausnahm wie eine todesmutige Maus inmitten einer Elefantenherde. Besser gar nicht hinsehen, dachte Maura. Stattdessen kon zen trierte sie sich lieber auf Janes Notizen. Sie waren hastig hingekritzelt, aber auch nicht unleserlicher als die Hieroglyphen von Ärzten, die Maura längst zu entziffern gelernt hatte.
Sarah Parmley, 28 Jahre. Zuletzt gesehen am 23.12. beim Auschecken aus dem Oakmont Motel.
»Sie ist vor zwei Wochen verschwunden«, sagte Maura. »Und erst
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