Blutmond - Wilsberg trifft Pia Petry - Kriminalroman
als er schon draußen steht.
»NEIN!«
Ich schlage die Tür zu, erleichtert, endlich allein zu sein. Aber dann kann ich mich doch nicht übergeben. Mein Magen hat dazu keine Lust mehr.
Als ich aus dem Bad komme, bin ich mir nicht sicher, ob sich mein Magen wirklich beruhigt hat oder ob ein Blick auf die tote Frau reichen wird, ihn wieder in Wallung zu bringen. Ich gehe das Risiko gar nicht erst ein und vermeide jeden Blick auf die Leiche, während ich die Vase wieder an ihren Platz zurückstelle. Von Wilsberg ist nichts zu sehen. Dafür sind eindeutige Geräusche aus dem Wohnzimmer zu hören. Er filzt die Schränke. Das passt zu einem Privatdetektiv. Aber passt das nicht auch zu einem Mörder? Einem Mörder, der Beweismaterial verschwinden lässt?
Sicherheitshalber krame ich mein Reizgas aus der Tasche und stecke es in meinen Hosenbund. Dann gehe ich zurück ins Bad und hole mir ein bisschen Klopapier. Besser, ich hinterlasse nicht überall meine Fingerabdrücke. Als ich schon auf der Schwelle stehe, registriere ich aus den Augenwinkeln den Bademantel. Er liegt neben der Tür auf dem Boden, ist aus weinroter Seide und offensichtlich von dem Chromhaken gerutscht, der in Stirnhöhe an der Wand angebracht ist. Wahrscheinlich ist er heruntergefallen, als Wilsberg sich hinter der Tür versteckt hat. Ich gebe einem tief verwurzelten Aufräumreflex nach und hebe ihn hoch. Eine der Manteltaschen ist deutlich ausgebeult. Ich greife hinein und ziehe einen Siegelring heraus. Das Wappen auf dem Ring kenne ich: zwei Schwerter, ein Herz und zwei Kohlköpfe. Über dieses Wappen habe ich vor zwanzig Jahren das letzte Mal gelacht: als Jochen es Renate und mir stolz präsentierte. Das Wappen seiner Familie. Er war beleidigt und wir haben uns fast in die Hosen gemacht. Vor allem wegen der Kohlköpfe.
Ich halte den Ring immer noch in der Hand, als ich Wilsberg im Schlafzimmer höre. Sofort lasse ich das Schmuckstück in meiner Hosentasche verschwinden.
»Was machen Sie da?«, fragt Wilsberg.
»Aufräumen«, sage ich und hänge den Bademantel an den Haken.
Wilsberg verdreht die Augen. »Fassen Sie um Gottes willen nichts an!«
»Ich passe schon auf«, antworte ich und gehe einen Schritt zurück. Ich möchte nicht, dass er mir zu nahe kommt.
Wilsberg registriert sowohl mein Ausweichen als auch das Reizgas in meinem Hosenbund.
»Ich fasse es nicht!«, sagt er. »Sie glauben tatsächlich, dass ich es war.«
»Waren Sie es?«
»NEIN!«, schreit er mich an. »Sonst würde ich ja wohl kaum noch hier herumstehen und Smalltalk mit Ihnen machen.«
Nun ja, da hat er nicht ganz Unrecht.
»Aber vielleicht erzählen Sie mir mal, was Sie hier wollen«, fragt er. »Sie haben hier doch überhaupt nichts verloren.«
»Sie auch nicht.«
»Ich bin Privatdetektiv, wie Sie ja mittlerweile wissen. Aber Sie ...«
»Haben Sie was gefunden?«, unterbreche ich ihn.
»Was?«, fragt er irritiert.
»Haben Sie in den anderen Zimmern irgendetwas Interessantes entdeckt? Eine Spur, einen Hinweis, ein Indiz?«
»Das würde ich gerade Ihnen auf die Nase binden. Und Sie?«, kommt dann die kleinlaute Gegenfrage.
»Das würde ich Ihnen genauso wenig auf die Nase binden.«
Resigniert sieht er mich an. »Sie beseitigen jetzt Ihre Fingerabdrücke. Draußen an der Tür, an der Vase im Schlafzimmer, im Wohnzimmer, im Bad. Überall, wo Sie etwas angefasst haben. Und dann verschwinden Sie.«
»Wollen Sie nicht erst einmal die Polizei rufen?«, frage ich misstrauisch.
»Das mache ich, wenn Sie weg sind. Oder möchten Sie die hiesigen Kripobeamten gerne kennen lernen?«
»Nicht unbedingt.«
Mit der Rolle Klopapier bewaffnet, mache ich mich auf den Weg ins Schlafzimmer. Doch bevor ich es betreten kann, fällt Wilsberg noch eine Frage ein.
»Eins würde mich interessieren«, sagt er. »Kennen Sie die Frau eigentlich?«
Ich räuspere mich. »Welche?«
»Die Tote.«
»Nein«, sage ich. »Ich glaube nicht.«
»Was meinen Sie mit ›Ich glaube nicht‹?«
»Ich habe sie mir nicht so genau angesehen.«
»Das sollten Sie aber.«
»Muss nicht sein.«
»Pia, tun Sie mir den Gefallen. Versuchen Sie es, bitte!«, sagt er so eindringlich, dass ich keine Möglichkeit sehe, mich weiterhin zu widersetzen.
Ich drehe mich um. Ganz langsam. Einen kurzen Blick in Richtung ihres Gesichts kann ich doch riskieren, denke ich. Das müsste ich doch aushalten. Ich nehme all meinen Mut zusammen und versuche, durch das ganze Blut hindurch ihre Gesichtszüge und ihre
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