Blutorangen
Abend. Später.«
»Patricia, hast du vor etwas Angst? Sag’ mir, wo du bist.« Am anderen Ende war Ruhe. »Willst du mir sagen, daß jemand verletzt wurde?«
»Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich spreche später mit dir.«
Und das wars. Klick.
Zuerst bekam ich Panik. Ich dachte, verdammter Mist, was ist bloß los? Was meinte sie damit, sie riefe mich bald an? In fünf Minuten? In dreißig? Ich wartete von elf Uhr bis Mitternacht auf ihren Anruf, und dann versuchte ich Raymond anzurufen, obwohl ich nicht glaubte, daß er die zweite Schicht am Samstagabend hatte. Wenn ich nur die Unterhaltung mit Patricia jemandem wiederholen könnte, dann hörte sie sich vielleicht nicht so schlecht an. Ich wählte eine Nummer — nichts. Ich wählte die von seinem Autotelefon — nichts. Ray arbeitete nicht. Er versuchte wahrscheinlich, Yolandas Zorn herunterzuspülen — man könnte fast einen Film daraus machen: Yolandas Zorn — ich ref ihn zu Hause an. Bevor ich die letzte Zahl wählte und mein Finger über der neun schwebte, legte ich den Hörer wieder auf. Ich sagte mir selbst: »Du kannst nicht alles kontrollieren wollen.« Wie Joe schon sagte: >Laß es ruhen<.
Da ist natürlich gegen meine Natur. Es ist nicht immer gut, wenn man alleine wohnt. Man hat niemanden, dem man seine Nachtgedanken mitteilen kann. Ich ging ins Schlafzimmer und zog mir Kleider an. Sei immer bereit, dachte ich, atmete flach und lauschte auf ein Telefonklingeln. Aber es klingelte einfach nicht. Wie man schon sagt: Wenn das Telefon nicht klingelt, weiß ich, daß du es bist.
In der nächsten Stunde machte ich alles mögliche, versuchte zu lesen, machte den Fernseher an und aus, räumte die Schulblade mit meinen Strümpfen um. Dann ging ich in die Küche und machte mir eine Tasse Kaffee, ging an meinen Spezialschrank und goß einen Schuß Brandy hinein. Ich ging ins Wohnzimmer zurück, rollte mich auf der Couch zusammen, so, als ob ich mal eben einen Freund anriefe und wählte Joes Nummer. Ich konnte mein Herz in meinen Ohren schlagen hören und beim dritten Klingeln, als ich schon gerade auflegen wollte, nahm Joe den Hörer ab.
»Laß mich vorbeikommen «, sagte ich.
»Smokey?«
»Wieviele Anrufe bekommst du am Abend?«
Am anderen Ende war Stille und dann sagte er: »Bist du dir sicher, daß du das willst?«
»Ja.«
Wieder Pause. »Was ist, wenn ich es nicht will?«
Ich sagte — ohne Spaß — »Du willst es.«
Es war neblig, und der Nebel verschluckte alles. Er bildete Wassertropfen auf dem frisch gestrichenen Balkongeländer vor meiner Haustür. Die Autos wurden von einer silbrigen Nässe überzogen und die roten Pflastersteine um den Brunnen glänzten, als ob sie von einer Filmcrew für einen besonderen Effekt naßgemacht worden wären.
Als ich auf dem Pacific-Coast-Highway war, fühlte ich mich wie in einem Wattebausch gefangen. Wenn es die vier vernebelten grünen Lichter in Jambores nicht gäbe, wäre ich weitergefahren und zwar direkt in den Newport Kanal.
Hier nicht, aber fast den ganzen Staat Kaliforniens entlang, verläuft der Highway an der Küste, so daß links von einem, wenn man Richtung Norden fährt und rechts von einem, wenn man Richtung Süden fährt, der Pazifik grüßt. Von den Sonnenstrahlen oder vom blassen Licht des Mondes wird er am Horizont durchbrochen. Dann, manchmal im Dezember, wenn man nicht daran denkt, atmet der Ozean heimlich und salzig aus, dort, wo Leute in Urlaub über tiefschwarze, sich windende Straßen fahren. Wenn sie nur ein bißchen zuviel getrunken haben, dann beginnt die Todesrate zu steigen: einer fährt kopfüber hinein, ein anderer überschlägt sich.
An einem solchen Abend vor zwei Jahren traf ich Raymond Vega, zehn Kilometer weiter südlich, in der Nähe von Laguna. Der Nebel stieg an den Klippen hoch über Bougainvillea, die sich an pfirsichfarbenen Stuckwänden von Wohn- und Bürohäusern erstreckten. Er zog sich über den Highway in einer weiten, ruhigen und schnellen Unbann herzigkeit. Ich war auf dem Weg zu einer Buchhandlung, als ich Lichter sah und anhielt, um zu fragen, ob ich helfen könne. Ray war an dem Abend, weil wenig los war, bei Häagen-Dazs vorbeigefahren. Das Wetter war im Inland auf seiner Wache in San Juan völlig klar gewesen. Auf dem Pacific-Coast-Highway fuhr er in eine Nebelwand und dachte gleich, Das gibt Ärger. Nur eine Minute später sah er ein Auto, das sich um einen Telefonmast geschlungen hatte. Der alte Mann und seine achtzigjährige Braut waren auf dem
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