Blutportale
Problem. Justine stand in dem niedrigen Wasser auf und hörte es leise plätschern, Vogelstimmen erklangen aus einiger Entfernung.
Das Wasser unmittelbar vor ihr sprudelte. Sie erkannte die Silhouette einer Frau - und dunkelblonde Haare.
»Saskia!« Justine griff in den Schopf und zog die Ertrinkende an sich. Saskia würgte und ächzte gleichzeitig, spuckte und hustete. Hätte Justine sie nicht festgehalten, wäre sie wieder versunken.
»Saskia, ich bin es«, rief Justine und schlang einen Arm um sie. »Wir müssen raus aus dem Wasser, hörst du?«
Sie wartete nicht auf eine Bestätigung, sondern stolperte los, einfach zur Seite, um durch das Wasser und die Schwaden hindurchzulaufen und hoffentlich auf festes Land zu gelangen. Justine wusste nicht, wo sie waren, in welcher Dimension, zu welcher Zeit.
Saskia rang noch immer nach Atem.
Das Wasser wurde flacher; bald gingen sie eine Böschung hinauf, die sie zu einem unbefestigten Weg führte. Ein Deich?
Noch immer konnte sie nicht sagen, wo sie sich befanden.
»Merde«, sagte sie und schleppte Saskia, die immer wieder das Bewusstsein zu verlieren schien, den Weg entlang. Saskia hörte endlich auf zu husten.
»Frag mich nicht, wo wir sind«, kam Justine ihr zuvor. »Du hast uns hierhergebracht, oder?« »Nicht absichtlich«, antwortete sie. »Der Mann hat mich ... hat die Gabe einfach ... aktiviert. Es war wie bei einem Stromschlag, der sich überträgt«, erklärte sie stockend.
»Hast du dabei wenigstens an unser Zuhause und unsere Zeit gedacht?« Justine lachte freudlos auf. »Nach Palmyra sieht mir das nicht aus. Und es war Salzwasser. Also sind wir irgendwo am Meer.« Sie schaute Saskia prüfend an.
Die schüttelte den Kopf. »Ich kann es dir nicht sagen, Justine. Ich habe ebenso wenig Ahnung wie du. Vielleicht hat der Mann uns an einen Ort geschickt, an dem er selbst gern gewesen wäre?«
Der Wind brachte Bewegung in das feucht-graue Gespinst um sie herum. Die Schwaden verwirbelten, wichen mehr und mehr vor ihnen zurück und offenbarten ihnen eine fast ebene Landschaft, die aus verschiedenen Grün- und Brauntönen bestand. Dazwischen erhoben sich immer wieder graue Felsen bis in Kniehöhe. Das Rauschen entpuppte sich tatsächlich als Meeresbrandung, die zu ihrer Linken gegen die Küste rollte.
Weit und breit gab es keine Spur einer Behausung oder eines Menschen oder irgendeines Lebewesens.
Justine verzog den Mund. »Saskia?«
»Ja?«
»Bring uns hier weg, ma chere.«
XXIII. KAPITEL
18. November
Syrien, Damaskus
Ihr Bruder ist ein sehr kranker Mann«, sagte Professor Al-far Hamsi ben Tibi, Leiter der Inneren Medizin der medizinischen Fakultät der Universität Damaskus, und blickte auf die andere Seite der Glasscheibe, hinter der Will, angeschlossen an zig Schläuche, medizinische Geräte und Kabel, in einem Bett lag. Intensivmedizin. Quarantänestation. »Wir haben den vereiterten Schnitt auf seinem Rücken geöffnet und vollständig ausgespült, ihn desinfiziert und mit Antibiotika behandelt. Aber die Entzündungswerte reduzieren sich nicht. Wir fanden keinen Auslöser für die Sepsis.« Er seufzte. »Wir haben die Werte mehrmals überprüft. Es tut mir sehr leid, aber mein Team und ich sind der Meinung, dass Ihr Bruder innerhalb der nächsten Tage sterben wird. Es sei denn, es geschieht ein Wunder.«
»Ich weiß, Professor«, entgegnete der Mann, der sich als Wills Bruder ausgab. Professor Tibi wandte sich zu ihm um. Er war ein unverkennbarer Araber, die Nase hatte eine markante Länge und gab seinem Profil etwas Energisches, zu dem die hart blickenden braunen Augen sehr gut passten. Im Sattel eines Hengstes und in anderem Outfit als in dem Arztkittel hätte er auch einen exzellenten Beduinensheik abgegeben. Er las eine beeindruckende Liste von Untersuchungen vor, die innerhalb der letzten Stunden gemacht worden waren. Andere Patienten mussten darauf ein halbes Leben lang warten. Geld beflügelte, und davon hatte der Bruder des Kranken erstaunlich viel investiert. »Alles, was wir herausgefunden haben, passt nicht zusammen. Einige der Werte sollten sich eigentlich sogar ausschließen«, sagte er.
»Versuchen Sie weiterhin Ihr Bestes, Professor. Solange Sie ihn nicht sterben lassen, ist mir alles recht. Die entsprechende Vollmacht habe ich Ihnen ja bereits bei der Einlieferung erteilt. Mein Bruder muss unter allen Umständen leben! Jeden Tag, den er in Ihrem Klinikum überlebt, vergolde ich Ihnen mit einer Million Euro.«
Tibi nickte.
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