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Blutportale

Blutportale

Titel: Blutportale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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und immer tiefer, wobei er gleichzeitig spürte, dass er immer noch auf dem Boden kauerte. Er meinte Saskias Stimme zu hören, doch er verstand nicht, was sie ihm sagen wollte. Dann klarte die Sicht langsam auf... und zu seinem Entsetzen erkannte er tief unter sich eine von Kanälen durchzogene Stadt bei Nacht, mit vielen Lichtern und kleineren Feuern auf Plätzen; es roch nach brennendem Wacholder und Rosmarin. Will wollte schreien, doch es kam kein Laut über seine Lippen; erst dann merkte er, dass er sich nicht im freien Fall befand: Er schwebte über der Stadt. Was geht nun wieder vor?
    Die gewaltige Siedlung war umgeben von Wasser und erinnerte ihn frappant an Venedig, wenn auch nicht so, wie er es kennengelernt hatte: weniger Lichter, keine Motorboote, und die Kleidung der Menschen, die er von so hoch oben entdeckte, passte gar nicht. Auch die vielen Segelschiffe unterschiedlichster Bauart machten ihn stutzig. Sah er etwa das alte Venedig vor sich? Und wenn ja: Zu welcher Zeit?
    Sein traumgleicher Flug, den er nicht zu steuern vermochte, führte ihn zu einer Insel, auf der größere Feuer brannten. Dichte Qualmwolken stiegen auf, und Will erkannte, dass auf den Scheiterhaufen Leichen verbrannt wurden! An anderer Stelle warfen Helfer die Toten in Massengräber und streuten sackweise weißes Pulver darüber, ehe sie die nächsten Leiber hineinschleuderten. Die meisten der Leichen hatten Geschwüre und schwarz verfärbte Finger und Zehen.
    Will tauchte durch das Dach in einen großen Bau, in dem Hunderte Menschen auf dreckigen Laken lagen, mit schwärenden Wunden am Körper und faulenden Gliedmaßen; Pestopfer, die zum Sterben hierhergebracht worden waren. Will wurde übel, weil er sich den Geruch lebhaft vorstellen konnte, der hier herrschte.
    Und im selben Moment roch er ihn.
    In den Gestank der Fäulnis und des Eiters mengte sich der Qualm von Schwefel und Pech, der aus in den Ecken aufgestellten Räucherpfannen drang. Kranke krochen auf der Suche nach Wasser über den Boden, schleppten sich durch Exkremente und Eiterpfützen. Man hatte sie alleingelassen.
    Ein Pfleger in einem Lederkittel betrat den Saal, einen Hut auf dem Kopf und eine merkwürdige, schnabelhafte Maske vor dem Gesicht. Will sog einen schwachen Hauch Lavendelduft ein.
    Sofort riefen die Menschen nach dem Pfleger, mal schwach, mal verzweifelt, mal wütend, und ihr Chor war erschütternd. Der Mann hielt ein leeres Fläschchen in der Hand und schritt durch die tobende Szenerie, bis er einen Toten entdeckt hatte. Er streifte sich die Ärmel seines Mantels hoch und ging vorsichtig in die Hocke; dabei meinte Will, auf seinem Handgelenk ein aufwendig tätowiertes Zeichen zu sehen. Mit einem spitzen Messer stach der Mann die Pestbeulen in der Leiste und unter den Armen nacheinander auf und fing die Flüssigkeit in dem Behältnis auf, bis es voll war. Er verkorkte es achtsam und verließ den Saal, ohne sich um die Kranken zu kümmern. Wie an einer unsichtbaren Schnur wurde Will wieder in die Höhe gezogen, er glitt durch die Decke und fand sich wenig später über der Stadt wieder. Er flog durch die verschlungenen Gässchen, über Kanäle und Brücken hinweg, bis er im vornehmen Salon eines Palazzo an einem der großen Kanäle landete, in dem zwei Männer miteinander sprachen. Ihnen sah man den Reichtum an; Kleidung und Schmuck waren von ausgesuchter Qualität. Will verstand kein Italienisch, aber sie klangen sehr zufrieden. Einer der Männer holte ein Fläschchen aus seinem Wams hervor und reichte es dem anderen. Es war gefüllt mit dem Inhalt der Pestbeulen, schmierig rot und hochgefährlich!
    Will erkannte das Zeichen, das der Empfänger trug - es war das gleiche wie die Tätowierung des Maskierten, allerdings auf einem Amulett, das er um seinen Hals trug. Der Mann bedankte sich, entfernte den Korken ...
    ... und trank! Danach reichten die Männer sich die Hände, und Will hörte ein tiefes, böses Lachen. Ohne dass er es zu erklären vermochte, fühlte er eine Zufriedenheit in sich. Und Bosheit.
    Mit merkwürdiger Gewissheit wusste er, was diese Männer machten: Sie hatten sich infiziert, um die Krankheit weiterzuverbreiten. Und zwar nicht nur bei den einfachen Menschen, sondern auch bei den Patriziern, bei den Wohlhabenden. Ein höheres Ziel im Namen von dem, dessen Zeichen sie trugen.
    Das Bild begann, vor seinen Augen zu zerfließen; Dunkelheit umfing ihn. Zurück blieb das erschreckende Gefühl größter Zufriedenheit, einer Stadt beim Sterben

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