Blutrausch
schaue mir Fluchtpunkt San Francisco an. Ich gehe nach oben und finde ein paar Reste des kubanischen Essens, das ich mir irgendwann mal von gegenüber geholt habe. Ich höre Musik und versuche, ein Buch zu lesen. Und die ganze Zeit über denke ich an die letzten eineinhalb Liter und dass ich dringend mehr davon brauche.
Vor vier Tagen habe ich zum letzten Mal Blut getrunken. Deswegen hat mir der zappelnde Spinner letzte Nacht auch so hart zusetzen können. In guten Zeiten trinke ich jeden zweiten Tag einen halben Liter. Das hält mich fit.
Vier Tage? Kein Wunder, dass ich so reizbar bin. Ich muss heute unbedingt einen Beutel trinken, wenn ich nicht jedem gleich an die Gurgel gehen will, bildlich gesprochen natürlich. Vielleicht komme ich auch mit einem halben Beutel klar.
Außerdem frage ich mich, was bei Evies Arztbesuch herausgekommen ist. Sie hat mich nicht angerufen, was aber nach unserem kleinen Zoff kein Wunder ist. Ich muss wohl bei ihr in der Bar vorbeischauen, wenn ich das Neueste erfahren will. Und das wiederum heißt, dass ich mindestens einen halben Liter brauche, damit ich nicht die Nerven verliere, wenn ich sie treffe. Ich will keinen weiteren Stress mit ihr. Nicht mit dem einzigen Menschen auf der Welt, der mir wirklich etwas bedeutet.
So gegen halb fünf öffne ich den Kleiderschrank. Ich fummle an dem Zahlenschloss herum. Früher hatte ich ein Schloss mit Schlüssel, bis ich einmal den Schlüssel verlor. Das war mitten am helllichten Tag, also konnte ich nicht einfach losspazieren und mir einen Bolzenschneider besorgen. Ich war nahe daran, das verdammte Ding aufzubeißen, bis ich irgendwann mein Hirn einschaltete und mich an den Hammer unter der Spüle erinnerte. Damit konnte ich das Schloss aufbrechen. So ist das, wenn man Hunger hat. Da fallen einem die einfachsten Sachen nicht mehr ein. Jetzt habe ich dieses Zahlenschloss. Gott sei mir gnädig, wenn ich eines Tages die Kombination vergesse.
Ich öffne den Kühlschrank und fühle mich dabei wie ein Spielsüchtiger, der zum vierten oder fünften Mal seinen Wettschein kontrolliert, ob er statt auf die Schindmähre, die als Letzte durchs Ziel gekommen ist, nicht doch auf das Siegerpferd gesetzt hat. Ich weiß genau, was im Kühlschrank liegt, aber vielleicht, vielleicht habe ich mir ja irgendwie Nachschub besorgt und kann mich nur nicht mehr dran erinnern. Ein paar Liter, die ich einfach übersehen habe, weil sie ganz hinten liegen oder so. Ich öffne den Kühlschrank. Pech gehabt. Aufs falsche Pferd gesetzt.
Mit einem Skalpell, das ebenfalls im Kühlschrank liegt, bohre ich ein kleines Loch in einen der drei Plastikbeutel und schließe meine Lippen darum. Dann drücke ich auf den Beutel, und ein dünner Strahl kalten Bluts spritzt in meinen Mund. Warm schmeckt es besser. Bei etwa 37 Grad Celsius ist es wirklich köstlich. Aber gut gekühlt ist es auch nicht zu verachten. Ich versuche, es in kleinen Schlucken kultiviert zu genießen, aber wem will ich hier eigentlich was vormachen? Also lege ich den Kopf in den Nacken und bohre ein weiteres Loch in den Beutel. Das Blut strömt in einem Rutsch meine Kehle hinunter. Vorsichtig schneide ich den Beutel auf und lecke ihn sauber. Jetzt fühle ich mich wieder gut. Lebendig.
Das Blut hält mich am Leben. Das Vyrus braucht ab und zu was Frisches, über das es herfallen kann. Das verhindert, dass es mein eigenes Blut angreift und die kleinen Blutproduzenten in meinen Knochen völlig leer saugt. Solange das Vyrus gesund und munter ist, bemächtigt es sich nicht meines Hirns, um auf der Suche nach etwas Essbarem lauter falsche Schalter umzulegen. Es hält mich am Leben. Wenn man das als Leben bezeichnen will.
Als ich fertig bin, stecke ich den leeren Beutel in eine der roten Sondermülltüten, die ich ebenfalls im Kühlschrank aufbewahre.
Was das Schöne am Winter ist? Die Sonne geht früh unter. Herrlich. Das und die vielen bewölkten Tage machen den Winter zu meiner Lieblingsjahreszeit. Ich ziehe einen Pullover über, schnüre meine Stiefel, schnappe mir meine Jacke, meine Schlüssel und ein bisschen Kleingeld vom Schreibtisch. Dann zähle ich einen kleinen Stapel Banknoten ab. Hundert Mäuse. Ich habe noch tausend in meiner Schuhspitze versteckt, aber die sind nur für Notfälle. Außerdem würde es nicht mal reichen, um die Miete zu bezahlen, mit der ich sowieso schon zwei Monate im Rückstand bin. Blut ist nicht das Einzige, was langsam knapp wird.
Die Art der Bezahlung ist abhängig
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