Blutsauger
musste seinen Allerweltsspruch unterdrücken.
37
Der frühe Abend war anders verlaufen, als sie es sich vorgestellt hatten. Melanie und Caroline bemerkten, wie ihre Gefühlswelt verrückt spielte. Sie versuchten, sich gegenseitig zu trösten, doch es fiel ihnen schwer, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Außerdem stand etwas zwischen ihnen, das sich wie Misstrauen anfühlte. Caroline war schon beim Lesen des Briefes unwohl geworden. Melanie hatte ihn viel zu schnell an sich genommen und anschließend weggesteckt.
Nachdem sie ihr Doppelzimmer im RIU Palace Maspalomas bezogen hatten, verspürten sie beide das Bedürfnis, für sich allein zu sein. Sie waren ohnehin bereits bei der Planung der Reise übereingekommen, sich gegenseitig genügend Freiraum zu lassen.
Deshalb musste es nichts bedeuten, dass Melanie den Wunsch äußerte, allein auf der Uferpromenade in östliche Richtung bummeln zu wollen – hinüber in Richtung San Agustin, wo eine gemauerte Brüstung entlang des Weges den allgegenwärtigen Sand fernhielt, den der Wind von den Dünen heraufblies und durch feinste Ritzen stäubte.
Auch Caroline war darüber erleichtert. Sie konnte eine Stunde allein sein und über alles in Ruhe nachdenken. Sie hatte angekündigt, schräg gegenüber dem Hotel, wo ihr im Erdgeschoss eines Gebäudekomplexes ein kleiner Supermarkt aufgefallen war, noch ein paar Flaschen Mineralwasser kaufen zu wollen und dann zu duschen.
Gegen halb acht war Melanie wieder im Zimmer erschienen – ziemlich einsilbig, wie Caroline es empfand.
Ohne viel zu reden, entschieden sie sich für ihre Sommerkleidchen und ließen sich im Speisesaal von einem überaus freundlichen Ober an einen Vierertisch geleiten. Offenbar hätten sie bei Elmar gesessen, denn es war für drei Personen gedeckt. Der Ober hatte sich jedoch dezent zurückgehalten und keine aufdringlichen Fragen gestellt. Sie vermieden es, während des ausgiebigen Essens über Elmar zu reden. Viel zu nah waren die Ohren der anderen Gäste. Stattdessen flüchteten sie sich in einen Small Talk, der sich um Ausflugsmöglichkeiten auf der Insel drehte.
»Wir müssen auch nicht dauernd zusammenhängen«, sagte Melanie schließlich, ohne zu ahnen, dass ihre Freundin damit begann, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen.
Trotzdem waren sie sich nach dem Essen einig, gemeinsam hinüber zum gedämpft beleuchteten Veranstaltungsraum zu gehen, der Bar und Tanzklub gleichermaßen war. Auf der Showbühne wurde den Gästen allabendlich ein einstündiges Programm geboten. Heute war ein Gruppe Einradakrobaten die Attraktion. Melanie und Caroline verfolgten die Darbietungen von ihrem Platz am Tresen aus. Sie hatten sich auf Barhocker gesetzt und Sangria bestellt, die allerdings nicht, wie es daheim die frotzelnden Schilderungen von Bekannten hätten vermuten lassen, in einem großen Pott serviert wurde, sondern in einem gepflegten Cocktailglas.
Als die Veloartisten ihren verdienten Beifall erhielten, stieß Melanie ihre Freundin vorsichtig an und deutete auf einen leger gekleideten Mann, der einige Barhocker weiter saß und an seinem Pils nippte. »Guck dir den Typ an. Bockstark.«
Caroline drehte sich langsam zur Seite, um das Objekt in Augenschein nehmen zu können. Sie nickte zustimmend, war allerdings in Gedanken versunken.
»Vergessen wir unser Weichei«, schlug Melanie vor und meinte zweifellos Elmar. Der spanische Rotwein, den sie zum Essen getrunken hatten, war schwer gewesen.
»Wenn er sich bis morgen nicht meldet, rufen wir ihn an«, erwiderte Caroline und sog die köstliche Sangria mit dem Strohhalm aus dem Glas, ohne ihre Freundin anzusehen.
Vorn auf der kleinen Show-Bühne, um die herum die eng besetzten Polstergruppen mit den kleinen Tischchen gruppiert waren, baute gerade eine Tanzkapelle ihre Instrumente auf.
Melanie hielt Blickkontakt zu dem Objekt ihrer Begierde. »Lass ihn doch«, sagte sie mit gedämpfter Stimme und spielte auf Elmar an. »Wenn wir ihm nicht passen, soll er machen, was er will. Wir können uns auch ohne ihn amüsieren.« Sie lächelte zu Caroline hinüber. »Urlaub zum Nulltarif. Was will man mehr?«
Carolines gekünsteltes Kichern ging in den Hintergrundgeräuschen unter. Sie wollte etwas sagen, doch in diesem Moment begann die Kapelle den beliebten Stimmungsschlager über Gran Canaria zu spielen. Als die Textstelle von den Dünen bei Maspalomas kam, summten die beiden Frauen mit und wippten im Takt. Melanies Blicke schweiften auffallend oft zu dem Mann
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