Blutsauger
Bergkette der Schwäbischen Alb hinauf. Hier, wo sich das Tal verengte und die bewaldeten Hänge wie eine riesige Mauer vor ihm standen, winterlich trist und an der Nebelgrenze mit Raureif beladen, war der südlichste Zipfel der Region Stuttgart. Noch vor 200 Jahren, als es weder Eisenbahn noch motorisierte Fahrzeuge gab, musste hier das Ende der Welt gewesen sein. Der Übergang über die Alb hatte sich auf steinigen Wegen und Pfaden gewiss ziemlich abenteuerlich gestaltet. Doch in früheren Zeiten, daran musste Häberle oftmals denken, wenn er unterwegs nach Geislingen war, hatten die Herrscher über die Ländereien bereits Weitblick bewiesen und von den Kutschern Zoll kassiert – eine Maut zur Benutzung der Verkehrswege. In Geislingen gab es noch heute einen prächtigen Fachwerkbau, der die Bezeichnung Alter Zoll trug – exakt im Zentrum der Stadt gelegen, wo einstens die Hauptverbindung ins 30 Kilometer entfernte Ulm verlief, zum südlichen Bereich der Alb, an dem die Donau entlang ostwärts floss.
Häberle, ein altgedienter Kriminalbeamter, der im ganzen schwäbischen Ländle großes Ansehen genoss, hatte sich vor geraumer Zeit wieder seiner Wurzeln besonnen und war von den Schaltzentralen der Inneren Sicherheit in die Provinz zurückgekehrt, wie er es selbst immer augenzwinkernd formulierte. Er war Sonderermittler gewesen, hatte einst die aufsehenerregende Entführung der Schlecker-Kinder geklärt und viele Schwerverbrecher zur Strecke gebracht. Seine Gelassenheit und Ruhe waren ebenso legendär wie sein scharfsinniges Kombinieren und sein aufmerksames Zuhören. Dass er auf den ersten Blick nicht gerade einen sportlichen Eindruck hinterließ, zumal seine Körperfülle im Laufe der Zeit stattliche Ausmaße angenommen hatte, war manchem Ganoven zum Verhängnis geworden, denn als Judoka-Trainer konnte er einen unerwarteten Spurt hinlegen und blitzschnell zupacken.
In Geislingen angekommen, wurde er im Backsteingebäude der Kriminal-Außenstelle herzlich begrüßt. Er schüttelte den Kollegen die Hände und ließ sich in den Sachverhalt einführen. Schmittke referierte wie gewohnt sachlich und zurückhaltend und ließ sich nur das eine oder andere von Linkohr bestätigen oder ergänzen.
Häberle, der auf einem Besucherstuhl vor Schmittkes Schreibtisch Platz genommen hatte, während die meisten anderen an Fenstersimsen oder am Türrahmen lehnten, fasste zusammen: »Wenn ich euch also richtig verstehe, habt ihr in den vergangenen beiden Tagen mehr Zweifelhaftes als Gewöhnliches entdeckt.«
Schmittke unterbrach ihn: »Wenn man von den Obduktionsberichten Kräuters absieht. Würden wir nur diese haben, wäre die Angelegenheit erledigt. Aber wir wollten uns damit nicht zufriedengeben.«
Linkohr grinste in sich hinein. Von ›wir‹ konnte keine Rede sein. Watzlaff hatte gedrängt – und letztlich auch die Direktionsleitung. Aber dies schien Häberle längst zu wissen, denn er zeigte sich informiert: »Baldachin ist nervös geworden. Der Landrat hat ihn offensichtlich angerufen – aus Sorge um den guten Ruf der Klinik.«
»Es mehren sich die Hinweise«, so fuhr Schmittke fort, »dass ein paar Herrschaften möglicherweise ein eigenes Süppchen kochen, das nicht ganz hasenrein ist. Bei der Durchsuchung von Fallheimers Wohnung – übrigens alles abgesegnet von Ziegler und Schwenger – sind wir auf einige Aufzeichnungen gestoßen, die uns merkwürdig vorkommen. Da gibt es eine Akte zu irgendeinem Projekt – und zu einem gewissen Humstett oder so ähnlich, der eine Laichinger Adresse hat. Außerdem …«, er sah Hilfe suchend zu den anderen Kriminalisten, »… ja, außerdem macht uns ein schriftlicher Hinweis auf eine Frau von Willersbach stutzig. Dieser Name ist schon einmal aufgetaucht – nämlich in der Nacht zum Sonntag, als sich eine Dame in der Ambulanz so genannt hat, ohne Ausweis oder sonstige Papiere bei sich zu haben. Unter der angegebenen Adresse in Ulm ist sie aber nicht gemeldet.«
Häberle nickte aufmerksam.
»Nach den Akten, die wir bei Fallheimer gefunden haben, müsste die Dame in Brig wohnen. Schweiz. Wallis, ganz in der Nähe von Zermatt. Matterhorn und so«, erklärte Schmittke und ergänzte, »der handschriftliche Vermerk von Fallheimer enthält noch ein Datum – und zwar den kommenden Samstag, 20. Februar.«
»Und was sagt die Klinikleitung?«, wollte Häberle wissen.
»Wir haben den Ärztlichen Direktor bisher nicht mit Einzelheiten konfrontiert. Noch nicht. Das hat sich ja
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