Blutsauger
kannst wenigstens ein bisschen spanisch.«
Melanie wusste nicht, ob sie das Gesagte als Hirngespinst abtun oder ernst nehmen sollte. Vermutlich war Carolines Überlegung nicht mal so abwegig. »Du willst damit sagen, jemand könnte …?« Sie wagte das Unfassbare nicht auszusprechen.
»Ich sag dir ehrlich, Melanie …, stell dir vor, wir werden wegen irgendetwas verdächtigt. Was sollen wir sagen? Dass wir Elmar heimlich hinterhergereist sind? Dass seine Frau nichts davon wissen durfte?« Sie beugte sich zu ihrer Freundin hinüber und spürte innerlichen Triumph, weil Melanie offenbar einen Teil ihrer zur Schau getragenen Arroganz verlor. »Hätten wir denn ein Alibi?«
Melanie verzog ihr Gesicht zu einem verständnislosen Lächeln. »Alibi? Wozu das denn? Wir wissen doch weder, wo Elmar ist, noch wann und wo er – falls dies geschehen ist – umgebracht wurde. Meinst du nicht, dass mit dir die Fantasie durchgeht?«
Caroline überlegte kurz, ob sie es sagen sollte, entschied sich allerdings dafür: »Ich hab auf jeden Fall panische Angst davor, im Gefängnis zu landen. Die spanischen Gefängnisse sollen die reinste Hölle sein, hab ich mal gehört.«
»Jetzt hör bitte auf«, mahnte ihre Freundin energisch, aber leise, »das ist doch Unsinn, was du da sagst. Was sollen wir schon für ein Interesse daran haben, Elmar umzubringen.« Ihr fielen zwei Männer mittleren Alters auf, die zwei Tische weiter vor sich hin schwiegen.
»Vielleicht sollten wir darauf achten, dass wir die nächsten Tage immer ein Alibi haben.«
»Alibi? Ich glaub, du liest zu viele Krimis. Wir sind hier und machen Urlaub. Touristen, verstehst du. Und falls mich jemand nach einem Alibi fragt, wird sich eines finden.«
Caroline sah ihre Freundin im Gegenlicht der prall scheinenden Sonne kritisch an: »Hättest du ein Alibi für die Stunde, bevor wir gestern Abend zum Essen gegangen sind?«
40
Häberle war im Umgang mit Menschen aller Gesellschaftsschichten geübt. Sein Feingefühl und sein Verständnis hatte ihm viele Sympathien eingebracht. Auf diese Weise fand er sowohl den Zugang zu vermeintlich knallharten Managern oder Politikern als auch zu jenen, die den Wohlstand nur vom Hörensagen her kannten. Nachdem er sich im zweiten Obergeschoss der Klinik durch einen langen Flur dem Vorzimmer Stuhlers genähert hatte, fühlte er sich von einer angenehmen Atmosphäre umgeben. An der weiß getünchten Wand neben der Tür hing ein großformatiges Poster, das den ehemaligen Fußballbundestrainer Jürgen Klinsmann zeigte und eine mit schwarzem Filzstift geschriebene persönliche Widmung aufwies. Häberle überlegte, wie Klinsmann und Stuhler zusammenpassten. Hatte Stuhler einmal Fußball gespielt?
Häberle entschied, darüber nicht länger nachzudenken. Er klopfte an die Tür und wurde von einer freundlichen Dame begrüßt, die überhaupt nicht in das Klischee jener Wichtigtuerinnen passte, die sich für gewöhnlich gerne im Umfeld von Chefärzten sonnten. Auch das Büro flößte dem Besucher nicht gleich Respekt ein: Es war klein und eher bescheiden und hätte in eine Praxis eines niedergelassenen Landarztes gepasst.
Die Tür zum Chefbüro stand einen Spalt weit offen, sodass Stuhler hören konnte, wer gekommen war. Augenblicke später kam er im weißen Arztkittel heraus, hieß den Kommissar willkommen und schüttelte ihm die Hand. Sofort geleitete er ihn in sein Büro, ließ die Tür einrasten und bot ihm am abgerundeten Teil des Schreibtisches einen Platz an.
Noch während sich Stuhler ihm gegenüber in seinem Bürostuhl niederließ, nahm Häberle die Umgebung in sich auf. Eine Chefarzt-Residenz hatte er sich immer anders vorgestellt – mindestens fünfmal so groß und mit ledernen Sesseln und eichenen Möbeln. Hinterm Schreibtisch ein Herrgott in Weiß, der sich hofieren ließ und nicht den Funken eines Widerspruchs gelten ließ.
Stuhler hingegen schien einen völlig neuen Typus zu verkörpern. Sportliche Erscheinung, eloquentes Auftreten. Einer, der noch den schwäbischen Dialekt beherrschte, wenn es sein musste. Stuhler, so Häberles erster Eindruck, brauchte nicht durch arrogantes Auftreten seine Bedeutung hervorzuheben. Dieser Mann hatte seine Position gewiss durch Fachkompetenz und zielstrebiges Arbeiten erreicht.
»Ich weiß, Ihre Zeit ist kostbar«, begann Häberle und sah, dass auf Stuhlers Computermonitor ein angefangener Text stand, den er nicht entziffern konnte. »Meine Kollegen haben Sie bereits am Sonntag behelligt.
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