Blutschande
die Mutter wohl auch zu arbeiten aufgehört und ist zu Hause geblieben«, erklärte Liv.
Per Roland schrieb die Eltern auf die Tafel und machte einen Kreis um die Namen, die er sorgsam mit dem Namen des Mädchens in der Mitte verband. Dann setzte er sich wieder auf seinen Stuhl am Ende des Tisches.
»Und damit wären wir wieder am Ausgangspunkt, bei den Eltern.«
Er sah die anderen am Tisch an. »Wir müssen sie unbedingt noch einmal befragen. Vielleicht verfügen sie über wichtige Informationen, ohne sich dessen bewusst zu sein.«
Die Anwesenden nickten. So etwas war schon häufiger vorgekommen.
»Und dann müssen wir von Tür zu Tür gehen und die Menschen in Espergærde befragen. Das können auch Max und Liv übernehmen. Und Carsten schließt sich an, sobald er mit dem Fischer gesprochen hat. Ich übernehm die Eltern, und ich nehme den Computer des Mädchens mit, wenn ich ohnehin schon da bin. Es ist nicht ratsam, sie immer wieder durch verschiedene Ermittler zu belästigen. Bis der Computer da ist, schlage ich vor, dass du, Miroslav, am Telefon sitzt, falls jemand eine Lösegeldforderung stellen sollte. Natürlich rufen die Entführer bei den Eltern an, aber die müssen uns dann gleich erreichen können.«
Miroslav sah seinen Chef enttäuscht an. Er liebte es, draußen im Einsatz zu sein, das wusste Roland, aber sein Talent wurde für den Computer gebraucht.
»Und Miroslav, kümmere dich bitte auch um alle Hinweise aus der Bevölkerung. Carsten hilft dir dann später, die genauer zu untersuchen.«
Die zwei sahen sich an und nickten sich zu.
Per Roland trank den Rest seines Kaffees. Er war kalt und schmeckte abscheulich. Dann stellte er die leere Tasse auf den Tisch und sagte mit uneingeschränkter Autorität:
»Und nur damit das klar ist: Ihr müsst euch alle darauf einstellen, dass die nächsten Tage äußerst hektisch werden. Wir müssen diese Aufgabe lösen und das Mädchen finden.«
Er sah ihnen der Reihe nach in die Augen und versicherte sich, dass sie sich des Ernstes der Lage bewusst waren.
»Vergesst ruhig alles über fachliche Absprachen und Arbeitszeitvorschriften. Ihr steht der Gruppe rund um die Uhr zur Verfügung. Das wird nicht leicht für eure Ehepartner und Familien, davon kann ich ein Lied singen, aber diesen Preis muss man zahlen, wenn man zur Elite zählen will.«
Er blickte noch einmal in die Runde.
»Einwände? Gut. Verdammt, das Mädchen ist erst elf Jahre alt. Mehr muss ich doch wohl nicht sagen.«
Per Roland blickte auf die Uhr, die über der Tür hing.
»Es ist bald drei. Ich schlage vor, dass wir den Nachmittag und den Abend mit den besprochenen Aufgaben verbringen. Wir treffen uns dann morgen früh um neun zur Frühbesprechung. Und keine Sekunde später.«
4
Das Klingeln hallte im Flur des älteren Hauses im Stokholmsvej im alten Zentrum von Espergærde wider.
Als Liv noch klein war, wurde das große, gelbe Gebäude im Volksmund als Sing Sing bezeichnet. Früher wohnten dort fast nur alleinstehende ältere Menschen, und die Kinder hatten sich seinerzeit gegenseitig damit Angst gemacht, dass es sich bei ihnen um Kinderschänder handelte, für die es in einem richtigen Gefängnis keinen Platz gab. Liv hatte immer extra fest in die Pedale getreten, wenn sie an diesem Haus vorbei musste. Sie hatte richtiggehend Panik davor gehabt, dass einer der Bewohner seine langen krummen Finger durch die Fenster schieben und sie packen könnte. Erst als sie älter war, hatte sie erkannt, dass in diesem Gebäude vorwiegend Familien mit Kindern wohnten, sogar ein paar Studenten, die sicher alles andere taten, als kleine Kinder zu frühstücken. Die Erinnerung daran erfüllte sie jetzt mit einem unangenehmen Schaudern.
In der Nachbarwohnung bellte ein Hund. Er klang wütend und aggressiv. Die Tür, vor der sie standen, hatte kein Namensschild. Kräftiger Essensgeruch hing im Treppenhaus und erinnerte Liv daran, dass sie selbst noch nichts gegessen hatte. Ihr Magen knurrte.
»Hans Schultheiss, fünfundfünfzig Jahre, von Beruf Heizungs- und Sanitärinstallateur. Er hat zwei Jahre wegen Exhibitionismus und sexuellen Übergriffen auf ein Kind gesessen«, las Liv von ihrem Block vor. »Der Mann ist erst vor zwei Monaten entlassen worden. Vorher hat er auch schon einmal länger gesessen, wegen Kinderpornos. Die hat damals, 1996, seine Frau beim Aufräumen gefunden, zu der Zeit war er noch verheiratet. Ein ganzer Stapel Videos, Filme von Pädophilen, die Sex mit Minderjährigen hatten,
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