Blutschande
Bestimmt aßen sie jetzt Koteletts und tranken einen leckeren Rotwein, vielleicht einen Valpolicella, während die Kinder ihre Mutter schmatzend für das tolle Essen lobten. Ob Cynthia und er Händchen hielten? Und ob die Kinder diesen neuen Mann bereits vergötterten?
Er ging zum Kühlschrank, nahm sich einen Discount-Wein im Tetrapack und goss sich ein. Als richtiger Mann sollte man eigentlich Bier trinken, dachte er.
Er kratzte sich am Rücken, ging ins Bad und stand lange pinkelnd vor dem Klo, während ihm der Gestank des Urins in die Nase stieg. Dann blickte er in den Spiegel, ohne sich vor seinem Spiegelbild zu fürchten. So schlimm war es nun auch wieder nicht. Nicht dass der Anblick besonders schön oder attraktiv gewesen wäre, aber es hätte durchaus schlimmer sein können. Er rieb sich den kahlen Schädel und rasierte sich die letzten dünnen Härchen ab, die irgendwie noch nicht bemerkt zu haben schienen, dass die anderen längst weg waren.
Dann schloss er die Augen und ließ sich zum ersten Mal seit langem von seinen Gefühlen forttragen.
Er dachte an Erik und Benedikte Adelskov und an die Junge-Larsens. An den schmalen Grat zwischen normalen Menschen und Verbrechern, und daran, wie leicht es war, diesen Grat für immer zu überschreiten, denn ein Zurück gab es dann nicht mehr.
Zurück im Wohnzimmer schaltete er das Radio ein. Wenn dieses Thema bei einem Fest oder einer anderen Gelegenheit zur Sprache kam, pflegte Per Roland zu sagen, er habe einen recht breiten Musikgeschmack. In Wirklichkeit war es wohl eher so, dass er gar keinen Geschmack hatte. Er wusste lediglich, dass die Musik, die in Livs Auto gelaufen war, nichts für ihn war.
Er setzte sich mit seinem Tütenwein auf einen wackligen Stuhl, der in der Ecke des Raumes stand und ließ Frank Sinatra My way singen. Roland dachte, dass auch er alles auf seine Weise getan hatte. Zwei Menschen waren ermordet worden, seit er Kopenhagen verlassen hatte. Ein Kind und eine junge Frau. Beide hatten sie ihre Leben noch vor sich gehabt. Doch in gewisser Weise hatten sie durch ihren Tod eine andere Frau und ihr Kind zu einem neuen Leben erweckt. Trotzdem hatte sich nichts geändert. Alles war unverändert. Wie immer.
Natürlich würden die Leute reden. Im Zug, an den Arbeitsplätzen, in der U-Bahn, auf dem Markt, in den Einkaufzentren und im Hafen würden sie darüber diskutieren, dass ein kleines Mädchen von seinen Eltern getötet worden war, weil es laut ausgesprochen hatte, was alle zu vergessen versucht hatten. Am meisten aber würde man sich die Mäuler zerreißen über die arme Frau, die ihre ganze Jugend verloren hatte, weil sie im Keller ihrer Mutter eingesperrt gewesen war, unbarmherzig bewacht von ihrer Mutter und ihrem Bruder. Und das alles nur, weil sie und ihr Bruder den Fehler begangen hatten, sich zu lieben . Dabei sucht man sich doch eigentlich nicht aus, wen man liebt, oder?, dachte er. Irgendwie passiert das doch einfach. Geredet wurde aber. Über die Liebe der Geschwister, und darüber, ob so etwas statthaft war. Und über das arme Kind, das jetzt zum ersten Mal das Tageslicht sah, zum ersten Mal in einem Auto saß, zum ersten Mal im Meer schwamm und die Vögel am Ufer sah.
Es beschäftigte die Menschen, sie redeten darüber, wie das Mädchen wohl zurechtkommen würde. Und auch die Presse würde jeden ihrer zaghaften Schritte Richtung Normalität verfolgen. Wie auch immer diese aussehen sollten. Oder kamen die Sozialbehörden vielleicht zu dem Schluss, dass es besser für sie war, an einem anderen Ort und unter einem anderen Namen ein neues Leben zu beginnen? Natürlich gemeinsam mit ihrer Mutter.
Roland mischte sich in all das nicht ein. Er wusste, dass alles wieder beim Alten sein würde, wenn dieses Thema ausdiskutiert war. Und eigentlich war er darüber ziemlich froh, denn er mochte seinen Alltag. Insbesondere, wenn er sich, wie so häufig, mit all den Kleinigkeiten und alltäglichen Dingen beschäftigen musste, die seine Arbeit so mit sich brachte.
Etwas später stieg er in seinen Wagen und fuhr zurück. Zurück nach Helsingør, zurück zum Nordre Strandvej und zu der Villa mit dem Panoramablick auf Schloss Kronborg. Zum ersten Mal fragte er sich, wie dieses Mädchen, diese junge Frau mit dem kleinen mageren Körper, sich trotz ihres lächerlich niedrigen Lohns diese Exklusivität leisten konnte? Er durfte nicht vergessen, sie irgendwann einmal danach zu fragen, dachte er und drückte auf die Klingel. Irgendwann einmal,
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