Blutschande
Griff-Kurs geben?«, fragte Liv.
Anette lachte warmherzig. Sie mochte Roland sehr, das konnte Liv spüren.
»Nimm du diese Seite, dann kümmere ich mich um die andere«, fuhr Liv fort.
»Sie weiß vermutlich selbst nicht, dass sie Julie heißt. Der Entführer hat ihr bestimmt einen anderen Namen gegeben«, sagte Anette.
»Verstanden«, sagte Liv, bevor sie sich trennten.
33
Schwitzend betrat Liv den letzten Raum der Etage, ein Wartezimmer. Sie warf ihre Lederjacke auf die blauen Stühle, die neben einem kleinen Tisch standen, auf dem Magazine über Gesundheit und schöneres Wohnen mit grellen Frauenzeitschriften wetteiferten. Ein einsames eingerissenes Donald-Duck-Heft hatte sich zwischen die Zeitschriften verirrt.
Sie kniete sich hin und sah unter alle Stühle, aber Julie versteckte sich auch nicht in diesem Zimmer. Sie hatte inzwischen jeden Winkel dieser Etage durchkämmt. Wenn sie so weitermachten, würden sie den ganzen Tag brauchen, um das gesamte Krankenhaus abzusuchen, selbst wenn sie eine weitere Einheit um Unterstützung baten. Liv ließ sich auf einen der Stühle plumpsen und starrte auf die Zeitschriften. Es war ein gut gehütetes Geheimnis, dass sie Donald Duck liebte und das Heft abonniert hatte. In erster Linie natürlich für die Mädchen.
Im gleichen Moment steckte Anette ihren Kopf herein. Liv sprang auf. Sie wusste nur zu gut, dass ihr das schlechte Gewissen anzusehen war. Anette musterte sie.
»Roland hat Neuigkeiten«, sagte sie dann.
Liv nahm ihre Jacke und folgte Anette, die mit schnellen Schritten zum Aufzug ging. Sie fuhren nach unten zur Pforte, an der Roland zusammen mit einer rothaarigen Frau mittleren Alters stand.
»Kommt, seht selbst«, sagte er.
Sie stellten sich hinter ihn und starrten auf einen kleinen Überwachungsbildschirm, während Roland an der Maschine unter der Tischplatte herumfingerte und das Video zurückspulte.
»Guckt mal hier«, sagte er und zeigte auf den Bildschirm. Liv sah Menschen durch die Schwingtüren des Haupteingangs ein und aus gehen.
»Das ist gerade erst eine halbe Stunde her.«
Plötzlich erschien auf dem Bildschirm ein kleines Mädchen, in dem Liv sofort Julie erkannte. Sie ging an der Hand eines Mannes, der einen grünen Hut und einen langen schwarzen Mantel trug, durch die Tür nach draußen.
»Können wir den nicht deutlicher kriegen?«
»Ich werde dafür sorgen, dass der Mitschnitt zu Miroslav ins Präsidium geschickt wird«, sagte Roland. »Er kann da mit seinen Zaubertricks bestimmt was machen. Bis dahin müssen wir wohl unsere Fantasie spielen lassen. Ich habe den Wachhabenden gebeten, eine Meldung an alle Streifenwagen durchzugeben.«
Roland ging zum Ausgang und sah nach draußen.
»Kann das ihr Entführer gewesen sein?«, fragte Liv.
»Mit größter Wahrscheinlichkeit«, antwortete Roland.
»Aber wo bringt er sie hin?«
»Wohin kann er sie bringen?«, fragte Roland. »Ich meine, sie ist in aller Munde, und ihr Bild ist heute auf den Titelseiten aller Zeitungen. Sie können nirgendwohin gehen, ohne dass sie jemandem auffällt.«
Beide sahen erwartungsvoll zu Anette hinüber, die sich Zeit zum Überlegen ließ.
»Ein Ort, den sie beide kennen«, sagte sie schließlich nachdenklich, während sie durch die großen Glastüren schaute. Dann wandte sie sich zu Roland und sah ihn lange an: »Der Ort, an dem der Entführer all die Jahre mit ihr allein war. Ungestört.«
»Sie scheint freiwillig mitzugehen, oder?«, sagte Liv.
»Du musst daran denken, dass dieses arme Mädchen die Welt draußen vermutlich noch nie gesehen hat. Und dann wacht sie in einem Krankenhaus auf, umgeben von Menschen, die sie nicht kennt, die an ihr herumfingern und Fragen stellen. Sie muss eine Heidenangst gehabt haben. Und dann kommt der, mit dem sie ihr ganzes Leben zusammen war, und holt sie. Natürlich folgt sie ihm dann, ohne zu zögern. Nur er kann sie an den Ort zurückbringen, an dem sie sich sicher fühlt. Wie fürchterlich dieser Ort in unseren Augen auch aussehen mag.«
Roland nickte.
»Okay, aber wo ist das? Wo?«
Anette zuckte mit den Schultern.
»An exakt diesem Punkt hört meine Arbeit auf, und deine fängt an«, sagte sie.
Sie blieben noch ein paar Sekunden stehen und sahen aus dem Fenster.
»Kann das Henrik Frandsen sein?«, fragte Liv.
»Wegen dem Hut, meinst du?«
Liv nickte.
Rolands Handy klingelte, und er nahm es heraus, redete kurz und wandte sich wieder den Frauen zu.
»Heute ist das Glück auf unserer Seite«, sagte er.
Weitere Kostenlose Bücher