Blutschnee
sah, wusste er, dass es April war.
Er beobachtete sie genau und spitzte die Ohren. Ihre Schritte klangen im gefrorenen Schnee nicht so laut wie die der Männer. Als die beiden am nächstgelegenen Fenster vorbeigingen, konzentrierte er sich ganz auf Aprils zartes Profil. Der Moment im Licht verriet ihm nicht viel. Blaue Flecken oder
eine unglückliche Miene hätte er ohnehin nicht ausmachen können. Sie schien einen glasigen Blick zu haben, während sie mit ihren Stiefeln durch den Schnee schlurfte. Jeannie führte sie an der Hand zur Außentoilette.
April tapste hinein und zog die Tür zu. Jeannie wartete draußen und rauchte eine Zigarette.
Als das Mädchen fertig war, nahm Jeannie sie bei der Hand, und sie gingen zusammen zurück. April hob den Kopf, und ein Fenster beleuchtete ihr Gesicht, als sie etwas sagte. Jeannie lachte, beugte den Kopf zu ihr herunter und erwiderte etwas, das April ebenfalls zum Lachen brachte. Das Mädchen hatte ein raues, volles Lachen, das Joe stets gern gehört hatte. Doch diesmal weckte es heftig widerstreitende Gefühle in ihm.
Sie kletterten in ihren Wohnwagen und schlossen die Tür. April war verschwunden.
Joe blinzelte.
Hätte er nicht gewusst, um wen es sich handelte, und hätte er die Umstände nicht gekannt, so hätte er die Szene als herzerwärmend bezeichnet. Die Mutter kümmerte sich offenbar genug um das Wohlergehen ihrer Tochter, um sie zur Außentoilette und zurück zu begleiten. Sie hatten sich an den Händen gehalten, und April hatte von sich aus Jeannies Hand ergriffen. Ihr Scherz hatte der Mutter gefallen, und sie hatte sich heruntergebeugt, um ihrer Tochter etwas zuzuflüstern, was beide hatte kichern lassen.
Joe wusste nicht recht, ob er das hatte sehen wollen. Er hatte sich vorgestellt, April würde unter Tränen durchs Lager geschleift. Wenn er so etwas beobachtet hätte, wäre er womöglich hinter seinem Baum vorgeprescht, hätte Jeannie beiseitegestoßen, April gerettet und sie durch den Schnee zu seinem Schlitten gebracht, um talwärts zu seinem Wagen zu rasen. Doch das war nicht geschehen. Ganz und gar nicht.
Er nahm nicht an, dass April ein besseres Zuhause gefunden hatte, als sie es ihr hatten bieten können. Das war kaum möglich. Doch falls er nicht in den Wohnwagen stürmen wollte, um sie praktisch zu entführen, konnte er kaum etwas ausrichten.
Ihn fror, und er war hin – und hergerissen. Er konnte hier nichts ausrichten. Also schüttelte er sich den Schnee vom Parka und machte sich daran, zu seinem Motorschlitten zurückzukehren.
Als die ersten Töne von »Danke schön« erklangen, drehte Joe sich überrascht um und ließ einen Handschuh fallen. Er war erst einen guten Meter von dem Baum entfernt, hinter dem er sich versteckt hatte, als das Lied durch die Nacht dröhnte und ihn erschreckte. Er blieb stehen und lauschte fassungslos. Woher kam dieser Lärm? Dann fielen ihm die Lautsprecher ein, die er bei seinem letzten Besuch am Lagertor gesehen hatte.
Er hörte lautes Fluchen aus den Wohnwagen. Jemand warf etwas Schweres an die Wand. Wenn das Lied die Souveränen zum Wahnsinn treiben soll, erfüllt es offenbar seinen Zweck, dachte Joe.
Eine Tür flog auf, und ein Mann, den Joe nicht kannte, erschien im Licht seiner Propanlampe, hob ein Sturmgewehr und feuerte eine Salve in die Nacht. Obwohl der Mann nicht auf Joe, sondern auf die Lautsprecher geschossen und sie – den hellen metallischen Einschlägen zufolge – getroffen hatte, kauerte Joe sich nieder und fischte nach seiner Beretta.
Eine weitere Salve durchlöcherte die Lautsprecher, ohne dass der Lärm nachließ.
Dann war das Lied zu Ende, begann aber nach kurzer Pause von neuem, und zwar lauter.
Joe hörte es dicht hinter sich plötzlich rascheln, war aber zu langsam und zu durchgefroren, um zu reagieren. Er bekam einen wuchtigen Schlag aufs Ohr, der ihn unbeholfen nach vorn kippen ließ. Schnee verstopfte ihm Mund und Nase.
Er verlor das Bewusstsein nicht, doch die orangefarbenen Sterne vor den Augen und ein dröhnendes Kopfweh hinderten ihn daran, sich zu wehren, als er hinter dem Baum hervor ins Lager gezerrt wurde.
Zwei Männer in zu großen weißen Tarnanzügen, auf deren mit weißem Klebeband umwickelte Gewehre Zielfernrohre montiert waren, schleiften ihn an den Armen mit sich. Eis und Schnee drangen ihm in Kragen und Hosenbund. Einer der beiden hatte ihm die Pistole abgenommen.
Als er den festen Schnee des Lagerplatzes unter sich spürte, wollte Joe sich aus dem Griff
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