Blutschnee
wirklich gedacht, Cargill sei hier«, meinte Joe. »Pfarrer Cobb in der Stadt sagte, er habe ihm Zuflucht gewährt. Die hat er wohl auch hier gesucht.«
Brockius wirkte verblüfft. »Dies ist keine Zuflucht.«
»Aber er sagte …«
»Eine Kirche ist eine Zuflucht. Aber das hier ist keine Kirche, sondern eine Station auf dem Weg zur Hölle.«
Und plötzlich vergaß Joe sein Kopfweh, den klopfenden Schmerz in seinen Rippen und die Kälte.
»Dann weiß ich, wo er jetzt ist«, sagte er laut. »Es ist Zeit, die Sache zu beenden.«
Ein trauriges Lächeln breitete sich auf Wade Brockius’ Gesicht aus.
»In dem Fall dürften Sie die hier doch brauchen«, sagte er und gab ihm die Pistole mit dem Griff voran zurück.
Joe nickte dankbar, schob die Waffe ins Holster und wandte sich wieder dem Wald zu, aus dem er gekommen war.
30
Am Morgen um halb fünf geriet Joe kurz in Panik und glaubte, sich verirrt zu haben. Er war mit seinem Pick-up auf dem Weg aus den Bergen und ganz auf die kaum noch sichtbaren Reifenspuren konzentriert. Er meinte zu wissen, wo er sich befand, und erwartete, Saddlestrings verstreute Lichter im Tal leuchten zu sehen, entdeckte aber nichts dergleichen. War er irgendwo falsch abgebogen? Der Sturm, das Dunkel und das heillose Gestöber riesiger Flocken im Scheinwerferlicht hatten seinen Orientierungssinn verwirrt. Doch ein Blick auf das GPS-Gerät am Armaturenbrett bestätigte ihm, auf dem richtigen Weg zu sein. Er seufzte erleichtert, und seine Panik klang ab. Der Schneefall hatte das Licht der Stadt einfach aufgesogen.
Joe war erschöpft, enttäuscht, lädiert. Hätte er sich nicht konzentriert und wäre er nicht in der Spur gefahren, die er auf dem Hinweg hinterlassen hatte, hätte er keine Chance gehabt, ins Tal zurückzufinden. Er fuhr erheblich schneller, als ihm dies angesichts der Straßenverhältnisse und des eingeschränkten Sichtfelds behagte, doch wenn er langsamer wurde, spürte er die Reifen zu tief in den Schnee sinken. Trotz seines Tempos und obwohl er auf dem gespurten Weg blieb, war er zweimal mit dem Unterboden aufgelaufen und hatte den Schnee zwischen den Achsen wegschaufeln müssen. Beim ersten Mal waren ihm dabei Gedanken an April durch den Kopf geschwirrt, an die Schläge, die er auf dem Zeltplatz hatte einstecken müssen, und an Spud Cargill. Beim zweiten Mal war er so erschöpft, dass er kaum noch die Schaufel von der Ladefläche heben konnte und ernstlich erwog, wieder in den Wagen zu steigen, Motor und Heizung laufen zu lassen
und den Rest der Nacht zu schlafen. Doch bei dem starken Niederschlag wäre der Auspuff binnen Stunden zugeschneit, und Kohlenmonoxid würde ins Führerhaus strömen – Ende! Ein seltsam verlockender Gedanke, aber er rang ihn nieder und schlug sich auf die Wangen, um wieder wach zu werden. Prompt ließ die gebrochene Rippe ihn zusammenzucken, und er machte sich unter Schmerzen daran, den Wagen erneut freizuschaufeln.
Stunden vergingen. Das Angriffsteam sammelte sich gewiss schon. Doch die Wetterverhältnisse und seine schlechte Verfassung ließen Joe immer langsamer werden. Die Situation erinnerte ihn an Träume, die er mit zehn, zwölf Jahren hatte, als seine Eltern sich nachts betrunken stritten und ihre wütenden Vorwürfe und im Zorn zerschmetterten Gläser ihn aus dem Schlaf rissen. In diesen Träumen rannte, schwamm oder radelte er so rasch wie möglich, ohne aber vom Fleck zu kommen. Und je mehr er sich anstrengte, desto näher schien er dem Haus zu sein, dem er entfliehen wollte. Dann erwachte er tränenüberströmt und von Vergeblichkeit und Enttäuschung gezeichnet. Allerdings war seine Lage heute viel schlimmer als alles, was er je geträumt hatte.
Joe ließ immer wieder die Szene zwischen April und Jeannie Revue passieren. Hätte Jeannie sich verantwortungslos benommen oder hätte April gegen sie aufbegehrt und weglaufen wollen, wäre vielleicht alles anders ausgegangen. Nun blieb ihm nur die Hoffnung, auf Zeit zu spielen, bis eine Lösung in Sicht war, und dazu musste er Spud Cargill aufspüren und den Abbruch des Einsatzes erzwingen.
Endlich ließ er den Wald und den tiefsten Schnee hinter sich und erreichte die Vorberge. Das Salbeigesträuch auf den Hügeln war ganz verschneit, und das Fehlen von Bäumen ließ ihn die Szenerie als seltsam unvollkommen empfinden.
Erstmals seit Stunden spürte Joe die Reifen durch den Neuschnee dringen und auf verharschtem Altschnee greifen, was ihm endlich wieder das Gefühl gab, die Dinge ein
Weitere Kostenlose Bücher