Blutschnee
Angestellten. Ich habe sie nicht gewählt – Sie etwa? Mit welchem Recht dürfen diese Leute mir also sagen, wo ich an einem Ort, der allen Bewohnern Amerikas gehört, ein Lager aufschlagen darf?«
»Ich werde nicht mit Ihnen diskutieren«, sagte Joe. Tatsächlich war er sich nicht sicher, ob er in dieser Frage einen grundsätzlich anderen Standpunkt vertrat. »Ich wollte Sie nur auf die Rechtslage aufmerksam machen.«
»Danke für den Hinweis«, antwortete Brockius, und seine Züge entspannten sich wieder.
»Wissen Sie etwas über den Mord an Lamar Gardiner, dem hiesigen Leiter der Bundesforstverwaltung?«, fragte Joe und hoffte, sein Gegenüber durch die plötzliche Frage zu Enthüllungen zu verleiten.
»Nein«, erwiderte Brockius mit Nachdruck. »Ich habe an Heiligabend davon erfahren. Sehr bedauerlich. Ich vermute, er war es, der all die Wapitis geschossen hat.«
»Stimmt. Kennen Sie einen Nate Romanowski?«
»Dieser Name ist mir neu.«
Es war kurz still, und Joe konnte hören, wie sich der Mann mit der Schrotflinte hinter der Barrikade bewegte.
»Haben Sie vor, länger hierzubleiben?«
Brockius sah zum Himmel und ließ seinen tiefen Blick dann auf Joe ruhen. »Das weiß ich wirklich nicht. Dieser Ort scheint mir in mancher Hinsicht gut dafür geeignet. Man hat hier das Gefühl, ans Ende der Straße, ans Ende unserer Reise gekommen zu sein. Wir waren lange unterwegs, müssen Sie wissen, und ich bin sehr, sehr müde.«
Joes Gesicht zeugte offenkundig von seiner Verwirrung.
»Wir sind etwa dreißig Leute«, sagte Brockius. »Aus dem ganzen Land. Wir haben uns gefunden und sind durch gemeinsame Tragödien und Erfahrungen verbunden. Wir sind fast alle die Letzten unserer Art – die Überlebenden von unglaublich traurigen Ereignissen.«
Brockius wies auf einen Klappcaravan im Süden des Zeltplatzes. Joe erkannte ein Nummernschild aus Idaho. »Ruby Ridge«, sagte Brockius. »Sie waren dort, als die Scharfschützen des FBI den Hund, den Jungen und die Frau erschossen haben, die mit ihrem Baby in der Tür stand. Vielleicht erinnern Sie sich, dass kein Mitglied des FBI dafür strafrechtlich belangt wurde – nur die Überlebenden.« Dann zeigte er auf einen Pick-up mit Camperaufbau aus Montana. »Jordan«, sagte er. »Der Letzte der Montana Freemen, kürzlich erst aus dem Gefängnis entlassen. Sie haben ihre Freiheit, ihr Land, ihre Zukunft verloren – alles. Auch dafür wurde auf Bundesseite keiner zur Verantwortung gezogen.«
Joe spürte, wie es ihm bei diesen Worten eiskalt den Rücken hinaufkroch. Wie kann das geschehen – gerade hier und jetzt? Vielleicht nimmt Brockius mich auf den Arm? Joe hoffte sehr, dass dem so war.
»Waco«, fuhr Brockius ernst fort und wies auf den Wohnwagen mit texanischem Nummernschild direkt neben seiner eigenen Behausung. »Sie haben ihre beiden kleinen Söhne bei dem Brand verloren. Kein Beamter oder Politiker, der dabei zugegen war, wurde festgenommen.«
Brockius wandte sich Joe wieder zu. Seine Stimme war noch immer sanft, doch eher wie Stahl, der in Samt gehüllt war. »Für uns ist dieser Ort eine Zuflucht, zumindest für eine Weile. Wir sind für niemanden eine Bedrohung. Wir sind am Ende und unglaublich müde. Wir wurden ungerecht behandelt, aber wir wollen nur in Ruhe gelassen werden und haben vor, die anderen in Ruhe zu lassen. Wir brauchen diesen Ort, um uns auszuruhen.«
Joe merkte, dass er Brockius schon die ganze Zeit über tief in die Augen sah. Seltsamerweise glaubte er ihm.
»Es war nett, Sie kennenzulernen, Mr Pickett.« Brockius streckte ihm erneut durch den Zaun die Hand entgegen. »Ich glaube, ich habe zu viel geredet. Das ist eine schlechte Angewohnheit von mir.«
Joe ergriff die Hand, fühlte sich aber schwach.
»Eine Frage habe ich noch.«
Brockius seufzte. Seine Miene wirkte gequält.
»Lebt eine Frau namens Jeannie Keeley bei Ihnen? Und hat sie vor, Kontakt zu dem kleinen Mädchen aufzunehmen, das sie in Saddlestring gelassen hat?«
»Soweit ich weiß, ist es ihre Tochter.«
»Und meine«, sagte Joe leise, aber entschlossen. »Meine Frau und ich sind ihre Pflegeeltern. Jeannie Keeley hat April
ausgesetzt, als sie Saddlestring vor fünf Jahren verließ. Meine Frau und ich versuchen, sie zu adoptieren.«
»Oh«, sagte Brockius. »Dann ist die Sache persönlich. Und kompliziert.«
»Eigentlich nicht.«
»Oh doch.« Er zuckte bedauernd die Achseln. »Ich hoffe, Sie verstehen, dass ich keine Macht über die Souveränen habe. Sie sind
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