Blutschnee
Stunden des Nachdenkens über Birch Wardell, Nate Romanowski, die Souveränen, Lamar Gardiner, Missy Vankueren und Melinda Strickland hatten ihn aufgerieben. Er war besorgt und fahrig erwacht und froh, dass Feiertag war. Auch der Neuschnee war ihm durchaus recht.
Er hatte gehört, die Eskimos besäßen Dutzende von Worten für die verschiedensten Arten von Schnee, und das hatte ihn immer beeindruckt, bis er darüber nachdachte, wie viele Worte auch er dafür kannte: von Neu – über Altschnee und
Harsch bis zum Firn, vom Pulver – über Feucht – und Nassschnee bis zum Schneematsch, vom Flug – bis zum Kunst – und Blutschnee. Auch gab es Schneeverwehungen und – flocken, Schneeregen und Graupel, und ließ Schnee sich nicht mitunter als mehlig oder zuckerig beschreiben? Kurz: Auch Joe hatte jede Menge Worte für die unterschiedlichsten Schneephänomene.
Marybeth kam in die Küche und nickte beifällig zu dem Frühstück, das er zubereitete. Dann warf sie einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass ihr niemand zuhörte.
»Mom ist heute Morgen erst um halb sechs nach Hause gekommen. « Sie schaute ungläubig drein. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich früher je so spät heimgekommen bin.«
»Ich hab dir ja gesagt, dass ich sie gestern Nacht gesehen habe. Sie verschwendet offensichtlich keine Zeit.«
»Joe!«, tadelte ihn Marybeth, ohne ihm wirklich zu widersprechen. »Lass die Mädchen das nicht hören.«
»Keine Sorge.«
Sie beugte sich verschwörerisch zu ihm vor. »Hast du den Mann erkannt?«
»Ich war mir nicht sicher«, sagte er und verteilte handflächengroße Teigkleckse auf dem Backblech. »Aber es könnte Bud Longbrake gewesen sein.«
Marybeth stöhnte. Sie wusste, dass Longbrakes Frau – Nate Romanowskis mutmaßliches Alibi – im Ausland war.
»Er passt in ihr Beuteschema«, fuhr Joe fort. »Erstens ist er Senator von Wyoming. Zweitens …« – Joe hatte die Hand gehoben und streckte einen Finger nach dem anderen – »… ist er reich. Drittens ist er gegenwärtig irgendwie Single. Viertens ist Missy gegenwärtig irgendwie Single. Fünftens braucht sie offenbar einen Mann in petto, falls ihr aktueller Gemahl aus
dem Tritt gerät.« Er lächelte bekümmert. »Falls er zum Beispiel ins Bundesgefängnis einfährt oder so.«
Marybeth schüttelte etwas missbilligend den Kopf. »Wie redest du denn?«
»Eins möchte ich von dir wissen«, sagte Joe. »Wie hast du es bloß geschafft, eine so wunderbare Frau zu werden?«
Sie lächelte. Doch die frühere Erwähnung von Mrs. Longbrake hatte sie offenbar beunruhigt, denn sie bat Joe, ihr ins Büro zu folgen.
»Als ich gestern Abend auf dich gewartet habe, hab ich im Internet recherchiert«, sagte Marybeth über die Schulter zu Joe und machte es sich auf seinem Bürostuhl gemütlich. »Ich wollte mal sehen, ob sich etwas über einen Verkehrsunfall in Montana vor anderthalb Jahren finden lässt.«
Joe hob die Brauen und wartete ab. Sie gab ihm einige Ausdrucke, die sie unter einem Stapel Akten versteckt hatte.
Joe nahm sie und las. Es waren Berichte, die in der Great Falls Tribune an drei aufeinanderfolgenden Tagen im Juni des Vorvorjahrs erschienen waren. Der erste Artikel hatte die Überschrift: Zwei Tote bei Unfall auf der Autobahn 87. Darin hieß es, ein verunfalltes Fahrzeug, das nicht aus Montana stamme, sei der Autobahnpolizei gut dreißig Kilometer nördlich von Great Falls nahe Fort Benton gemeldet worden. Noch sei unbekannt, wer die beiden Insassen waren, doch die Behörden ermittelten.
Am nächsten Tag wurden die Opfer des Unfalls, bei dem der Wagen sich vielfach überschlagen hatte, in einem kleineren Artikel als zwei Männer von zweiunddreißig und siebenunddreißig Jahren aus Arlington, Virginia, beziehungsweise aus Washington D.C. identifiziert. Beide seien auf der Stelle
tot gewesen. Die Autobahnpolizei mutmaßte aufgrund der Bremsspuren, der Motor des neuen Geländewagens sei bei einer steilen Talfahrt mit mehreren Kurven abgestorben, und der Fahrer habe die schärfste Kurve nicht geschafft und die Leitplanke durchbrochen. Das Fahrzeug hatte sich mindestens siebenmal überschlagen, ehe es den Grund des Canyons erreichte. Den Beifahrer hatte es aus dem Wagen geschleudert, während der Fahrer hinter dem Lenkrad zerquetscht worden war.
»Der Motor hat versagt – also keine Servolenkung und keine Bremskraftverstärkung mehr. Großer Gott«, sagte Joe geistesabwesend und las weiter.
Zeuge gesucht für die
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