Blutschnee
ungeduldigen Pferde mit Hufstampfen und Schwanzschlagen begleiteten.
Als Marybeth das körnige Ergänzungsmittel mit dem Getreide mischte, fiel ihr auf, dass einige Pferde ihren Blick nach draußen gewandt hatten und mit gespitzten Ohren wachsam lauschten. Dann hörte sie das leise Brummen eines Motors und das Knirschen von Reifen im Schnee. Der Motor verstummte, und gleich darauf fiel eine Wagentür ins Schloss.
Marybeth glaubte, es handele sich um Marsha, und schob die Stalltür auf, um Hallo zu sagen, doch der Gruß blieb ihr im Halse stecken.
Jeannie Keeley stand drei Meter entfernt und musterte sie mit hartem Blick durch aufsteigenden Zigarettenrauch und weiß dampfenden Atem hindurch. Hinter ihr wartete ein alter blauer Dodge Pick-up. Ein Mann saß am Steuer und starrte geradeaus durch die Frontscheibe in Richtung der Berge.
»Wissen Sie, wer ich bin?«, fragte Jeannie Keeley. Ihr starker Mississippi-Akzent war enervierend.
Sie trug eine übergroße grüne Steppjacke und hatte die Hände in den Vordertaschen ihrer Jeans. Sie wirkte kleiner und zerbrechlicher, als Marybeth sie von der kurzen Begegnung in der Praxis der Geburtshelferin in Erinnerung hatte, die vier Jahre zurücklag. Damals waren sie beide schwanger gewesen, und Jeannie hatte die fünfjährige April dabeigehabt.
» Allerdings«, sagte Marybeth und bemühte sich, ihre Stimme nicht angespannt klingen zu lassen. Hinter ihr trat ein Pferd gegen die vordere Wand seiner Box, doch Marybeth wandte den Blick nicht von der kleinen Frau.
»Und ich weiß, wer Sie sind«, sagte Keeley, wobei die Zigarette zwischen ihren Lippen wippte. »Ich will meine April zurück.«
Diese Worte trafen Marybeth wie ein Schlag. Bis zu diesem Moment war ihr nicht klar gewesen, wie sehr sie hoffte, Jeannie
Keeleys Rückkehr bedeute nichts Böses, sie reise vielleicht nur durch und verbreite dabei ein wenig Unruhe.
»Wir betrachten April inzwischen als unsere Tochter, Jeannie. Wir lieben sie wie unsere Kinder.« Marybeth schluckte. »Joe und ich sind dabei, sie zu adoptieren.«
Jeannie schnaubte verächtlich.
»Dafür muss das Verfahren abgeschlossen sein. Und dazu muss die leibliche Mutter ihre Zustimmung geben.«
»April ist glücklich«, sagte Marybeth in dem Versuch, von Mutter zu Mutter mit Jeannie zu reden. »Wenn Sie sie sehen könnten …« Dann dachte sie an die Spuren im Schnee und errötete vor Zorn. »Aber vielleicht haben Sie sie schon gesehen. Jeannie, waren Sie vorgestern Nacht vor unserem Haus? Haben Sie in unsere Fenster geschaut?«
Ein schwaches Lächeln zuckte um Jeannies Mundwinkel, und sie legte den Kopf ein wenig zurück.
»Vor Ihrem Haus? Das muss wer anders gewesen sein.«
Marybeth gab sich alle Mühe, weiter ruhig und besonnen zu klingen, obwohl sie Jeannie am liebsten angeschrien hätte. Halbbewusst hatte sie sich für diesen Kampf gewappnet, seit sie von Keeleys Rückkehr gehört hatte. Doch sie rang den Wunsch nieder, sie anzugreifen; vielleicht konnte sie ja an die Gefühle der anderen Frau appellieren.
»Jeannie, Sie haben April mit den Hausschlüsseln vor der Bank abgesetzt und die Stadt verlassen. Mir ist klar, wie furchtbar es für Sie gewesen sein muss, Mann und Heim zu verlieren. Aber Sie haben den Entschluss gefasst, Ihre Tochter zu verlassen. Wir haben sie Ihnen nicht genommen.«
Jeannie musterte Marybeth mit blanker Verachtung. »Sie begreifen gar nichts. Ich hasse Leute, die behaupten, mich zu verstehen.« Ihre Augen wurden ganz schmal. »Für Sie gibt’s nichts zu verstehen, Miss Marybeth Pickett – bis auf das eine,
dass ich mein Baby zurückwill. Sie muss bei ihrer wahren Mama aufwachsen, bei der Frau, die ihr die Windeln gewechselt hat. Sie war eine schwere Geburt, und ich wäre fast verblutet, als ich sie zur Welt brachte.« Ihre Stimme wurde leiser. »Ich will meine Tochter zurück … und zwar … jetzt.«
Marybeth funkelte nicht minder aufgebracht zurück. Sie spürte ihren Zorn und ihre Enttäuschung wachsen. Diese Frau hasste sie. Diese dumme, billige Person hasste sie!
»Wir lieben April«, sagte sie gemessen, doch was half das schon?
»Das ist sehr anständig von Ihnen«, erwiderte Jeannie und lächelte süffisant. »Aber das ist egal, denn sie ist nicht Ihr Kind, sondern meins.«
Marybeth ging plötzlich auf, dass Jeannie sie dazu bringen wollte, die Beherrschung zu verlieren und etwas zu sagen oder zu tun, was gegen sie spräche, wenn sie vor Gericht landen sollten. Jeannie hatte sogar einen Zeugen
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