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Blutschuld

Blutschuld

Titel: Blutschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karina Cooper
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den Straßen, bis sie auf das New-Seattle-Karussell auffuhr. Am Himmel über der Stadt sammelten sich graue Wolken zu einer dunklen Decke, die schwer herniederdrückte und die Stadt und mit ihr eine Hexenjägerin auf der Flucht vor sich selbst einhüllte. Mit gerunzelter Stirn stierte Naomi das Lenkrad an; ein High-Tech-Teil, genau wie das Armaturenbrett, das mit Anzeigen, Tasten und Knöpfen übersät war.
    Als die ersten dicken Regentropfen gegen die Windschutzscheibe platschten, zuckte Naomi zusammen. Sie fluchte. Beinahe hätte sie das Steuer verrissen und den Sportwagen in ein breites, kastenförmiges Luxusgefährt gelenkt, das gerade zum Überholen angesetzt hatte. Sie fluchte weiter, wütender, kaum dass Zorn heiß wie Lava erneut in ihr hochkochte.
    Ihre Mutter war tot. Ein Wahnsinniger, der im Zeitlos auf Blut aus war, hatte sie umgebracht. Sie war tot.
    Oder nicht?
    Würde es etwas ändern, wenn sie noch am Leben wäre?
    Es gab kein Wort, kein Gefühl, das stark genug gewesen wäre, nichts, das hätte beschreiben können, wie schwarz die Leere war, die schlagartig in Naomi tobte wie ein furchterregend lebendiges, alles verschlingendes Wesen.
    Nein, es würde nichts ändern.
    Tränen brannten in Naomis Augen, scherten sich nicht um den Verkehr oder darum, ob sie geweint werden wollten. Galle verätzte ihr die Kehle, und Naomi dachte schon, sie müsste sich übergeben, so beutelte sie die Bitterkeit. Sie schluckte schwer und zeigte der Welt die Zähne. Sie packte das Lenkrad fester und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
    Das Highwaysystem wand sich in Serpentinen um New Seattles in Lagen aufeinandergetürmtes Stadtgebiet wie eh und je, und der Verkehr floss wie ein breiter Strom um den Sportwagen und seine Fahrerin herum. In dieser Fahrtrichtung gab es keine Kontrollpunkte zwischen Ober- und Mittelstadt. Den Sicherheitskräften war es schnurz, ob die Reichen und Gelangweilten ihre Nase in die Slums der Stadt stecken und eine Nacht lang versumpfen wollten.
    Nur zurück in die Gegenrichtung zu wollen würde ein Problem.
    Darum würde sie sich kümmern, wenn es soweit war. Fürs Erstekonzentrierte sie sich ganz darauf, es heil bis zu ihrem kleinen Mittelstadt-Apartment zu schaffen. Dort angekommen, gelang es ihr, alle von der Mission vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen korrekt außer Kraft zu setzen. Sie bemerkte es nicht einmal. Es war ihr auch egal.
    Sie stieg über Berge von unordentlich auf dem Boden aufgehäuften Kleidungsstücken und war schon dabei, sich aus dem eng anliegenden Spitzenmieder zu schälen. Währenddessen befreite sie sich aus den grässlichen Stiefeln, kickte sie sich vom Fuß, ohne darauf zu achten, wo sie landeten. Die hautenge Designerjeans folgte. Danach suchte sie sich etwas Richtiges zum Anziehen.
    Irgendwo auf dem Boden fand sie eine abgewetzte Jeans mit weiß ausgefransten Rissen auf Oberschenkeln und Po. Vertraut wie Atmen. Endlich löste sich etwas von der Spannung, die ihr die Rippen zusammengepresst hatte. Wie ein entwirrter Knoten.
    Ganz plötzlich bekam Naomi wieder Luft.
    Mit den Händen strich sie über den groben Baumwollstoff. Ihr Blick wanderte über das unordentliche Durcheinander, das in den letzten paar Jahren ihr Zuhause gewesen war. Viel Zeit hatte sie hier in diesen Jahren nicht verbracht.
    Zuhause war der Ort, an dem man schlief.
    Ihr Zuhause wirkte plötzlich heruntergekommen. Armselig. Der Teppich hatte Flecken und war an einigen Stellen abgewetzt; die rostumflorten Wasserflecken an Decken und Wänden sahen aus wie Blutlachen, aufgesogen vom Putz, der längst keine benennbare Farbe mehr hatte. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu etwas, das fast als Lächeln durchgehen konnte. »Das, Schätzchen, ist nun mal alles, was du hast.« Der Klang ihrer eigenen Stimme erdete sie in gewisser Weise neu.
    Die letzten Tage waren ein Albtraum gewesen. Nicht real. Das hier war real.
    Kugelhagel und Blutvergießen, das war real.
    Und dieser schimmernde, glitzernde Palast, der die Mittelstadtüberstrahlte und sich jenseits von deren Armutsgrenze in den Himmel erhob? Klar, es war ein Palast. Ein funkelnder Diamant, der im Sonnenlicht seine Pracht entfalten durfte, das die Straßen kaum erreichte, auf denen Naomi sich üblicherweise bewegte. Sollten ihn die verdammten Idioten in der Oberstadt doch für sich behalten!
    Naomi West hatte keine Verwendung für Diamanten.
    Sie betrat das winzige, beengte Badezimmer   – was für ein himmelweiter Unterschied zu der luxuriösen

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