Blutschuld
weiter. Sie drehte sich um und ging. Sie wandte sich nach links. Mit raumgreifenden Schritten durchmaß sie die Schwimmhalle und suchte die weitläufige Anlage mit Blicken ab.
Zehn verschiedene Becken, ein Haupteingang.
Zwei Angriffe an ein und demselben Tag. Vielleicht steckte ein und derselbe Angreifer dahinter, vielleicht aber auch nicht. Ein Hexer. Ein Geist in Gestalt eines abtrünnigen Agenten.
Zum Teufel noch mal!
Viel mehr konnte nicht schiefgehen.
In der Privatsphäre des Familienflügels konnte Phin sich erlauben, die Maske fallen zu lassen. Die Hände, mit denen er sich durchs Haar fuhr, zitterten. Übelkeit krampfte seinen Magen zusammen, der mit Verspätung den durchlebten Aufruhr verarbeitete. Phin ging auf und ab, tigerte in der hübschen, elegant eingerichteten Suite ziellos von Zimmer zu Zimmer, während er das, was eben geschehen war, immer und immer wieder in Gedanken durchging.
Welche Ursache konnte die Fehlfunktion der automatischen Saunaverriegelung haben? Aus Sicherheitsgründen versiegelten sich die Türen doch immer erst nach Betriebsschluss. Niemals, absolut nie , geschah das während der Zeiten, in denen Gäste Zugang zum Wellnessbereich hatten! Warum hatten die Regler für die Dampfzufuhr verrückt gespielt? Vor drei Wochen, bei der monatlichen Inspektion der Anlage, war alles in einwandfreiem Zustand gewesen.
Und, o Gott, warum meldete sich keine von seinen beiden Müttern bei ihm? Beide waren gleich nach seinem Anruf in die Klinik geeilt. Seitdem hatte er nichts von ihnen gehört. Ging es Alexandra wieder besser? War sie in Ordnung?
Die Aufzugtür glitt auf, als er gerade zu seinem Com greifen wollte. Er fuhr herum. Lillians Gesichtsausdruck ließ Hoffnung, Angst und einen Überschuss an Energie in seinen Kopf steigen. Daher brachte er keinen Ton heraus und konnte nur wortlos in einer verzweifelt fragenden Geste die Hände heben.
Lillian Clarke hatte wunderschöne grüne Augen, durchsetzt von Gold. Jetzt blickten diese Augen müde drein. Aber ihr beruhigendes Lächeln war Antwort genug auf die unausgesprochene Frage. Die Angst, die Phin wie ein Stahlband die Brust zugeschnürt hatte, löste sich. »Alexandra geht es schon bald wieder gut«, versicherte Lillian ihrem Sohn mit fester Stimme. »Sie ist sehr erschöpft, aber sie erholt sich bereits.«
Phins verspannte Schultern sackten vor Erleichterung herab, und er ließ sich in den großen Ohrensessel fallen. »Herr im Himmel«, stieß er hervor, seine Stimme ein heiseres Flüstern.
»Das kannst du laut sagen. Grund genug, sich darauf einen zu genehmigen.«
Phin konnte nur nicken.
Lillian war groß für eine Frau, eine elegante Erscheinung. In ihrem Haar fand sich noch keine graue Strähne; es war immer noch honigblond und glänzte, als finge sich die Sommersonne darin. Meistens, wie auch jetzt, trug sie es zu einem strengen, aber dennoch aparten Bananenknoten aufgesteckt. Dazu benutzte sie nie etwas anderes als ganz normale Haarnadeln, keinen modischen überladenen Schnickschnack. Bis auf ihr Kinn, das ein kleines bisschen zu eckig war, besaß Lillian feine Gesichtszüge, die ihr Alter durchaus verrieten. Gesichtszüge, die energisch waren und etwas Aristokratisches an sich hatten.
Jetzt strahlte ihr hübsches Gesicht Gelassenheit und Ruhe aus. Sie goss zwei Fingerbreit einer rötlich-braunen Flüssigkeit in zweiKristallgläser. »Hier«, sagte sie und drückte Phin ein Glas in die Hand.
Seine Finger reagierten instinktiv und nahmen das Glas. Aber mit einem Stirnrunzeln blickte Phin zu den Aufzugstüren hinüber. »Kommt Mutter denn nicht auch noch?«
»Sie wird wohl noch eine Weile bei Alexandra bleiben.« Lillian setzte sich auf die breite Lehne des Ohrensessels. Ihr graues, maßgeschneidertes Kostüm wirkte, als habe sie einen Tag am Schreibtisch verbracht, ohne das geringste Erschütternde erlebt zu haben. Phin nahm einen kleinen Schluck von seinem Brandy.
Der Weinbrand wärmte ihm alles von der Zunge bis zum Magen. Ein weiteres stählernes Band aus Angst, eines, das ihm den Magen zugebunden hatte, löste sich in Wohlgefallen auf.
Phin blickte auf die gerahmte Fotografie seiner beiden Mütter. Der Rahmen stand gleich neben ihm, auf dem Beistelltisch neben dem Sessel. Er hatte einen guten Blick auf die beiden so unterschiedlichen Frauen. Wo Lillian Kultiviertheit und grazile Anmut verströmte, entsprach Gemma Clarke mit ihren haselnussbraunen Locken, ihrem runden Gesicht und vollen Wangen, ihren warmen, braunen Augen
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