Blutschuld
eine Wahl? Mit der Aufmerksamkeit, die das Zeitlos nur allzu bald auf sich zöge, mussten sie so viele der Flüchtlinge, die unter seinem Schutz standen, wie möglich in Sicherheit bringen. »Mary Beth ist seit drei Monaten von ihrem Vater getrennt. Ich möchte, dass die beiden wieder zusammen sein können, Mr. Barker.«
»Was ist mit Diego? Seine Familie haben wir erst zur Hälfte auftreiben können.«
»Wen haben wir bereits?«
»So wie’s aussieht, haben wir seine Tante und Nichte in der Wäscherei. Sein Neffe arbeitet als Gärtner. Uns fehlen immer noch seine Mutter und sein Bruder, aber leider …« Barkers Stimme verlor sich.
Phin stützte die Stirn in die Hand. »Raus damit, Barker.«
»Niemand hat seinen Bruder gesehen, seit die Missionare in der Umgebung von Diegos alter Wohnung herumgeschnüffelt haben.«
»Verflucht noch mal!« Phin ballte die Faust, ließ die Hand aber sinken, ehe er sich dazu hinreißen ließe, etwas Dummes zu tun. Wie etwa die Faust in die Wand genau vor ihm zu versenken. »Wirkönnen es uns nicht leisten, noch mehr Zeit zu verschwenden. Suchen Sie zusammen, wen Sie haben, und schicken Sie sie los! Diego wird …« Was? Sich damit abfinden, dass die Kirche seinen Bruder aufgespürt und wahrscheinlich umgebracht hatte?
Wohl kaum. Phin schloss die Augen. »Legen Sie los, Mr. Barker.«
»Jawohl, Sir.«
Phin beendete die Verbindung. Mit einer geübten Bewegung klippte er das Com zurück an den Gürtel. Währenddessen blickte er auf eine der vielen nur dem aufmerksamen Beobachter auffallenden Tapetentüren, die sich überall im Labyrinth aus Vestibülen und Empfangshallen auf den Etagen des Zeitlos verteilten. Ein winziger, unsichtbar platzierter Schalter gewährte mit seiner genialen Elektronik Zugang zu einem geheimen Tunnel, der zu einem ganzen Netz gehörte, das die Wände des Nobel-Resorts durchzog.
Wenn alles gut gegangen wäre, hätten sie in knapp dreizehn Stunden eine kleine Gruppe von Menschen durch diese Tunnel geschleust.
Geschmuggelt wie illegale Ware. Oder Sklaven.
Wenn es nach der Kirche ginge, waren sie gewissermaßen beides.
Stattdessen würden in etwa zehn Minuten elf Menschen durch das Netz aus Geheimtunneln geführt: das schmutzige kleine Geheimnis des Zeitlos . Wenn die Kirche, nein, wenn irgendjemand – außer der sorgfältig ausgewählten Kontaktpersonen – je von Phins illegaler Untergrund-Transportlinie erführe, so wäre dies das Aus für das Luxus-Resort.
Mitsamt seiner Familie.
Sie alle kannten das Risiko. Es war allemal wert, es einzugehen.
Nur nicht, wenn sie jemanden verloren. Herr im Himmel! Schon vor fast sechs Wochen hatte man Diego herausgeschmuggelt. Die Kirche war ihm bereits dicht auf den Fersen gewesen. Phin selbst hatte ihm in die Hand versprochen, seine Familie zu ihm zu bringen.
Jeder Verlust an Menschenleben riss eine tiefe Wunde.
Mit einem Seufzer wandte sich Phin ab und ging auf die elegante Tür zu, die ihn zurück in das zentrale Atrium des Zeitlos bringen würde. Als Erstes nämlich musste er sich jetzt um die Wartungsarbeiten in der Sauna kümmern. Er musste herausfinden, was zur Hölle schiefgegangen war. Er brauchte etwas, irgendetwas von Substanz, das er den Gästen erzählen könnte.
Nicht zu vergessen: der Kirche.
Er stieß die Tür zum Innenhof auf und blieb gleich unter dem Türsturz stehen. Seine Augen mussten sich erst an das gedämpfte Licht gewöhnen, das im Park herrschte. Wie immer legte sich das besänftigende Raunen fließenden Wassers auf seine Seele und seinen unruhigen Geist wie eine leichte, wohltuende Ruhe versprechende Bettdecke zur Nacht.
Der sorgsam gepflegte Park, so klein er auch war, entlockte Phin ein Lächeln.
Hoch hinauf zu der Lichtkuppel über ihnen streckten die Bäume ihre breiten Kronen. Die altmodischen Laternen, die sanfte Lichtkegel auf die Gehwege warfen, hüllten die grünen Riesen in geheimnisvolle, der Fantasie Flügel verleihende Schatten. Eichen mit roten, goldenen und welken braunen Blättern teilten sich ihr Gartenquartier mit Kirschbäumen, deren Zweige und Äste längst nackt waren, und mit immergrünen Kiefern und kahlen Ahornbäumen. Eine Trauerweide mit knorrigen Ästen wie verkrüppelten Armen kauerte am Ufer des künstlichen Sees und labte sich gierig an der Feuchtigkeit der Erde dort.
Der Atrium-Park hatte mehr als nur einen von der Stadt ausgelobten Preis gewonnen. Die ruhigen Plätzchen im Schatten, die sich überall entlang der gewundenen Pfade
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