Blutschuld
Naomi in der Ahnenreihe des aalglatten Phinneas Clarke vorzufinden vermutet hatte.
Diese Frau sah tatsächlich aus wie eine Mutter.
Wie Phins Mutter.
Naomi schluckte. Ganz plötzlich spürte sie jeden Zentimeterihrer ein Meter achtzig Körpergröße wie den Schattenfall eines hohen Turms.
»Guten Morgen, Miss Ishikawa!« Die angenehme Altstimme vermittelte das Gefühl, willkommen zu sein. Das runde, mütterlich wirkende Gesicht strahlte Wärme aus, als die Frau Naomi zur Begrüßung beide Hände entgegenstreckte. »Ich bin Gemma Clarke. Ich möchte Ihnen danken, Naomi. Wir schulden Ihnen eine Menge.«
Da Naomi nicht in der Lage war, dem zu entgehen, ohne mehr Ärger zu verursachen, als Phin wert war, ließ sie es zu, dass Gemma Clarke sie bei den Händen nahm. Gemmas Hände waren warm, der Händedruck fester als erwartet.
Der Händedruck eines Menschen, der mit den Händen arbeitete. Eine Spur Respekt für diese Frau durchdrang Naomis immer noch latent vorhandene Verärgerung. »Keine Ursache«, erwiderte Naomi. »Ich war sowieso gerade in der Nähe.« Auf der Jagd nach einem Hexer.
Und damit beschäftigt, in der dunklen Ecke eines seltsamen Gartens den Sohn dieser Frau zu küssen.
Aber wo war Gemma Clarke währenddessen gewesen?
Das Lächeln, das Naomi aufsetzte, verdeckte wie eine schöne Maske die Welle aus Adrenalin, die bei diesem Gedanken durch ihre Adern schoss und ihre Nerven kitzelte. Das war der Teil ihrer Arbeit, den Naomi am meisten verabscheute.
Geheimnisse waren einfach nicht ihr Ding.
Davon auszugehen, Gemma Clarke habe ihr eigenes Wellness-Center sabotiert, ergab keinen Sinn. Der Vorfall brachte ihr nur Verluste ein. Neben Geld verlor sie ihren guten Ruf und Kunden.
Konnte es sein, dass Gemma durch den Tod der alten Dame mehr gewänne als verlöre? Naomi war entschlossen, das herauszufinden.
»Unfug!«, widersprach Gemma Naomi mit strahlendem Lächeln. Naomis prüfenden Blick bemerkte sie nicht. »Ohne Siehätte wer weiß was passieren können!« Sie deutete auf das Touch-Pad in Naomis Hand. »Ist das Ihr Behandlungsplan, meine Liebe?«
Der nächste Impuls für Naomis nur mühsam bezähmte Wut. Sie biss die Zähne zusammen. Es gelang ihr, mit zumindest einem Anflug höflichen Interesses zu antworten: »Ja, genau, das ist er.«
Gemmas Augen strahlten, als sie sich mit ihrem Schopf dunkler Locken über das Display beugte. Lavendel stieg Naomi in die Nase. Sie verzog den Mund.
Die meisten Gefängnisse rochen nach Schweiß und Bleiche. Wahrscheinlich sollte man da Lavendelduft als echten Fortschritt werten.
»Oh, wie wunderbar! Sie haben um eins einen Termin zur Massage bei Joel. Seien Sie versichert, dass die Hände dieses Mannes eigentlich in Gold aufgewogen gehören.« In einer ungezwungenen, ganz und gar ungekünstelten Geste hakte sich Gemma bei Naomi unter und geleitete sie zum zweiten Fahrstuhl hinüber. »Für alle anderen Anwendungen müssen sie in den fünften Stock.«
Ein wenig fühlte sich Naomi wie ein Trümmerstück, das in einem Wirbelsturm gefangen war. Willig ließ sie sich von Gemma quer durch das Atrium führen und hinüber zu dem zweiten Fahrstuhlblock, wobei Gemma in aufgeräumt fröhlichem Plauderton auf sie einredete. In den wenigen Minuten arbeitete sie ein beachtliches Spektrum an Themen ab, das von den erstaunlichen Eigenschaften der verschiedenen Mineralien in den unterschiedlichen Behandlungsräumen der oberen Stockwerke bis zum Personal reichte, das zu finden sie die ganze Welt durchkämmt habe.
Bei Naomi drehte sich schon alles, so ungewohnt war ihr dieses Gesprächstempo. Sie war daher völlig überrumpelt, als die Frau, die so viel kleiner war als sie, sie mit ihrer kleinen Hand fest am Kinn fasste. »Was um Himmels willen ist denn mit Ihrem Gesicht passiert, meine Liebe?«
»Eine Glasflasche.« Ehe Naomi es begriff, waren ihr die Worte auch schon herausgerutscht. Naomi setzte ein breites Grinsen auf und zwang sich dazu, entspannter zu klingen, als sie sich fühlte. »Nichts als ein Kratzer, ganz im Ernst, mehr nicht.«
Der Blick aus schokobraunen Augen gewann an Schärfe. Taxierte sie. »Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?« In diesem gedehnten, festen, um nicht zu sagen stahlharten Tonfall erkannte Naomi Phin wieder.
Er war ganz Gemma Clarkes Sohn.
Naomis Grinsen geriet etwas schief. »Habe ich denn eine Wahl?«
»War es ein Familienangehöriger, dem Sie die Verletzung verdanken?«
Wie Luftblasen in Wasser stieg Lachen in Naomis Kehle
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