Blutseele
einfach holen können, was wir brauchen, und dann wieder verschwinden, ist es sogar besser. Es ist einfacher, sich hinterher verzeihen zu lassen, als um Erlaubnis zu bitten …«
Pierce trat langsam in den Raum. Er zögerte an dem beschichteten Tisch und betrachtete die tickende Uhr, den kalten Ofen und die Spüle, während ich meine Tasche und den Mantel auf einen Stuhl fallen ließ. »Ihr und Eure Mutter seid allein?«, fragte er.
Überrascht über das Maß an Verwunderung in seiner Stimme zögerte ich. »Ja. Robbie ist von der Westküste zu Besuch, aber er muss nächste Woche zurück.«
Er riss seine leuchtend blauen Augen von der Decke los. »Kalifornien?«
»Oregon.«
Pierce sah wieder zum kalten Küchenherd und erriet offensichtlich anhand der Kanne abgestandenen Cranberry-Tees darauf, wofür er gut war. »Eure Mutter sollte dafür belobigt werden, dass sie sich allein um Euch gekümmert hat.«
Wenn er nur wüsste, wie oft es anders herum gewesen war. »Das sollte sie, nicht wahr?«, sagte ich, während ich zur Kaffeemaschine ging und hineinsah. Sie war frisch aufgefüllt. »Willst du einen Kaffee?«
Pierce zog seinen Mantel aus und drapierte ihn sorgfältig über eine Stuhllehne. Er kontrollierte den Sitz der nicht vorhandenen Krawatte, dann bewegte er die Arme, als wollte er testen, wie warm es war. »Ich bin gesonnen Ja zu sagen, aber reicht dafür unsere begrenzte Zeit?«
Ich legte einen Schalter um, und die Kaffeemaschine nahm den Betrieb auf. Mir gefiel seine umständliche Art zu sprechen. Es ließ ihn irgendwie fein klingen. »Jau. Willst du mir auf dem Speicher helfen?«
Ohne die Antwort abzuwarten ging ich den anderen Flur entlang, der in den Rest des Hauses führte. Pierce folgte mir. »Da ist das Badezimmer«, sagte ich, als wir daran vorbeikamen. »Mein Zimmer liegt am Ende des Flurs und Moms ist gegenüber. Robbie hat das vordere Zimmer, obwohl es inzwischen mehr ein Lagerraum ist.«
»Und die Diener leben auf dem Speicher?«, fragte er, als ich unter der Ausklappleiter anhielt.
»Diener?« Ich starrte ihn entgeistert an. »Wir haben keine Diener.«
Pierce sah so überrascht aus, wie ich mich fühlte. »Aber die Teppiche, die Fotografien, die Wärme in Eurem Haus und seine Einrichtung …«
Er sprach nicht weiter und breitete in einer fragenden Geste die Hände aus. Ich wurde rot, als ich es kapierte. »Pierce«, sagte ich verlegen. »Wir sind absolute Mittelklasse. Ich war nie näher dran einen Diener zu haben als damals, als Robbie eine Wette verloren hatte und einen Monat lang mein Zimmer putzen musste.«
Dem Mann fiel die Kinnlade hinunter. »Das hier ist Mittelklasse?«
Ich nickte, streckte mich nach dem Zugband und hängte mich daran. »Der größte Teil der Stadt gehört dazu.« Die Falltür bewegte sich kaum, aber meine Hand rutschte ab. Die Klappe schlug mit einem Knall wieder zu, und ich fiel angewidert wieder auf die Füße.
Pierce ergriff die Kordel und trat unter die Klappe. Er war nicht viel größer als ich, aber er hatte mehr Muskeln. »Ich kann das«, sagte ich, aber meine Arme zitterten, und letztendlich trat ich zurück, als er die Treppe ausklappte, als wäre überhaupt nichts dabei. Aber vielleicht war es ja auch so.
Pierce sah in die Dunkelheit über uns, aus der kalte Luft herabströmte, und zuckte zusammen, als ich das Licht anschaltete.
»Tut mir leid«, sagte ich und nutzte seine Überraschung aus, um mich an ihm vorbei auf die Leiter zu drängen. »Ich bin gleich zurück«, sagte ich. Ich genoss die kühle Luft auf dem Speicher, die angenehm nach Holz und staubigen Kisten roch. Das matschige Geräusch eines vorbeifahrenden Autos klang seltsam nahe. Ich schlang die Arme um mich, während ich die verschiedenen Kisten musterte, die wahllos verteilt herumstanden, als wären sie Erinnerungen im Gedächtnis einer Person. Man musste nur wissen, wo ein Gedanke war, und ihn dann abstauben.
Ich entdeckte einen Stapel aus sorgfältig beschrifteten Tomatenkartons, in denen all meine Stofftiere waren. Ich lächelte leise und stieg über die Halloween-Dekorationen, um einen staubigen Deckel zu berühren. Ich musste ungefähr zweihundert davon besessen haben, alle gesammelt während meiner Krankenhausbesuche. Ich hatte sie als meine Freunde angesehen, und vielen von ihnen hatte ich die Namen und Persönlichkeiten meiner echten Freunde verliehen, die es beim letzten Mal nicht mehr aus dem Krankenhaus rausgeschafft hatten. Ich wusste, dass meine Mom sie nicht mehr
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