Blutspur in East End
erwiderte sie.
„So? Dann muss ich mich wohl geirrt haben. Es war doch finster. Oder wollen Sie mir einreden, ich hätte die Frau am helllichten Tag abgestochen?“
Eigentlich hätte Carol vor Wut explodieren müssen, als sie seine blöden Sprüche hörte. Dennoch tat sie es nicht. Und dafür gab es einen ganz einfachen Grund.
„Du hast meine Freundin überhaupt nicht getötet. Warum nimmst du die Schuld auf dich? Wen willst du decken?“, fuhr sie ihn an.
Bei Carols Worten blinzelte Phil Gordon verunsichert. Für einen Moment kam es Carol so vor, als wollte er die Wahrheit sagen. Aber dann zog er sich wieder in sein Schneckenhaus zurück.
„Du irrst dich, ich bin es gewesen. Keine Ahnung, warum ich es getan habe. Mein Anwalt meint, wir sollten auf verminderte Schuldfähigkeit plädieren. Weil ich in der Nacht so getankt hatte.“
Aber Carol war jetzt richtig in Fahrt. „Was hatte Tricia denn an, als du sie erstochen hast?“
„Irgendwelche Kleider. Es war so verflucht finster“, erwiderte der Häftling genervt.
Carol erinnerte sich, dass die Umrisszeichnung der Leiche direkt unter einer Straßenlaterne gewesen war. Es konnte also nicht so dunkel gewesen sein, wie Gordon behauptete, es sei denn, die Beleuchtung war defekt gewesen.
„Kannst du dich denn wenigstens noch an ihre Haarfarbe erinnern?“, fragte Carol hartnäckig.
„Nicht wirklich.“
„Die meisten Typen haben immer von Tricias tollen blonden Haaren geschwärmt. Seltsam, dass du davon nichts gemerkt hast“, sagte sie.
Phil Gordon antwortete nicht mehr, sondern warf der Inspektorin einen flehenden Blick zu, die ihm tatsächlich zu Hilfe kam. Sie wandte sich an Carol. „Der Beschuldigte hat bereits ein umfassendes Geständnis abgelegt. Die Tatwaffe wurde bei ihm gefunden. Zwar waren nicht seine Fingerabdrücke darauf, aber der Griff ist abgewischt worden. Mr. Gordon hat für die Tatzeit kein Alibi. Außerdem gibt er zu, Ihre Freundin ermordet zu haben.“
Am liebsten hätte Carol Gordon angeschrien, um ihn aus der Reserve zu locken, aber vermutlich hätte sie damit nichts erreicht. Sie zwang sich deshalb zur Ruhe. Die Inspektorin schien Carols inneren Aufruhr zu spüren.
„Ich denke, wir sollten den Besuch beenden. Falls Ihnen noch etwas einfällt, dann wissen Sie ja, wo Sie Mr. Gordon erreichen können. Und zwar für den Rest seines Lebens“, versuchte sie Carol zu beschwichtigen.
Carol nickte düster. Phil Gordon machte sich so schnell aus dem Staub, wie es mit seinen zusammengeketteten Füßen möglich war. Offensichtlich hatte er nur noch das Fußballspiel im Kopf.
Schweigend gingen die beiden Frauen durch die endlos erscheinenden Korridore von Wandsworth. Die Stimmen und Laute Hunderter von Strafgefangenen bildeten eine unheimliche Geräuschkulisse, sodass Carol vor Beklemmung der kalte Schweiß ausbrach. Sie wollte nicht eine Minute länger als nötig in diesem riesigen Käfig bleiben.
„Ich kann verstehen, wie Sie sich fühlen, Miss Garner“, brach die Inspektorin schließlich das Schweigen.
„Ach, wirklich?“, antwortete Carol ironisch.
„Ja. Ich habe sehr oft mit Angehörigen oder nahen Freunden von Verbrechensopfern zu tun. Vielleicht erscheint es Ihnen zu einfach, dass Phil Gordon der Täter ist. Aber glauben Sie mir: Er hat Ihre Freundin erstochen. – Wissen Sie, warum die meisten Morde so schnell aufgeklärt werden? Weil die Verbrecher dumm sind. Und damit meine ich nicht nur den Täter, der seinen Personalausweis neben der Leiche liegen lässt, obwohl es einen solchen Fall auch schon gegeben hat. Richtig raffinierte Straftaten gibt es nur in Romanen oder Filmen. Das ist jedenfalls meine Erfahrung.“
„Aber Gordon wusste noch nicht einmal, wie meine Freundin ausgesehen hat. Und dann dieser Schwachsinn mit dem Auto und dem Stich in die Kehle!“, widersprach Carol.
„Unter uns gesagt: Phil Gordon ist ein Asozialer. Er hat keinen Schulabschluss, dafür aber verschiedene Vorstrafen. Er lebt auf der Straße und schaut zu tief ins Glas. Glauben Sie, so ein Typ ist ein guter Beobachter?“, argumentierte die Inspektorin.
„Wahrscheinlich nicht. Aber ich hatte mir einen Mörder irgendwie anders vorgestellt. Heimtückischer und unberechenbarer und gewiss nicht so – nichtssagend.“
Aufmunternd klopfte Victoria Shepley Carol auf die Schulter. „Nehmen Sie sich Zeit zum Trauern, um über den Verlust Ihrer Freundin hinwegzukommen. Phil Gordon bekommt einen fairen Prozess. Wenn er wirklich unschuldig sein
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