Blutspur in East End
unzählige Touristen aus aller Welt.
„Was wirst du eigentlich tun, wenn dir der Verbrecher gegenübersteht, Carol? Würdest du ihn tatsächlich umbringen, wie du es gestern gesagt hast?“, fragte Eve plötzlich.
„Was? Nein, natürlich nicht.“ Carols Antwort war ihr spontan herausgerutscht. Doch entsprach das der Wahrheit? Sie war sich über ihre Gefühle nicht mehr im Klaren.
Sollte sie Tricias Mörder finden, dann konnte sie für nichts garantieren.
4. KAPITEL
Als die Dunkelheit hereinbrach, zog allmählich dichter Dunst auf. Die Geräusche der Nebelhörner, die von den Schiffen auf der Themse ertönten, hörten sich schaurig an. Es klang, als ob riesige Seeungeheuer vor Schmerzen schreien würden.
Carol zog die wollene Stola dichter um ihre Schultern. Sie schützte kaum vor der klammen Kälte, denn der Ausschnitt ihres bodenlangen Kleides war gewagt. Rodney hatte ihr verboten, mit dem warmen Schal ihre Brust zu bedecken. Das sei schlecht für das Geschäft, meinte er. Und sie musste tun, was Rodney wollte, denn er war ihr Beschützer.
Momentan würfelte und trank Rodney mit seinen Kumpanen in einem der sogenannten Ginpaläste an der Brick Lane. Carol konnte nur davon träumen, dort am warmen Kanonenofen im Schein der nachgemachten Kristallleuchter zu sitzen. Sie musste sich einen Steinwurf weit entfernt von der Kneipe draußen die Beine in den Bauch stehen. Und sie konnte nur darauf hoffen, dass bald ein Gentleman auftauchen würde, mit dem sie aufs Zimmer gehen konnte.
Die Angst war Carols ständiger Begleiter. Seit einigen Wochen machte ein unheimlicher Frauenmörder Whitechapel unsicher. In dem Elendsviertel saßen die Messer locker, und Streitigkeiten wurden lieber mit den Fäusten als mit Worten ausgetragen. Daran war Carol schon gewöhnt, sie kannte es nicht anders. Doch einen Irren, der Freudenmädchen wie sie brutal ermordete, hatte es bis dahin in Whitechapel noch nicht gegeben.
Die Revolverblätter, die von zerlumpten Kindern auf der Straße verkauft wurden, hatten dem Verbrecher den Spitznamen Jack the Ripper verpasst. Scheinbar war die Polizei machtlos. Einige Leute in Whitechapel glaubten sogar, dass die Ordnungshüter gar nicht gegen Jack the Ripper einschreiten durften, weil er zur königlichen Familie gehörte. Aber Carol hielt das für ein dummes Gerücht. Würde Königin Victoria von England wirklich zulassen, dass ein Verwandter von ihr solche grausamen Bluttaten beging?
Es war, als ob Carol durch ihre Grübeleien das Unglück heraufbeschworen hatte. Eine dunkle Gestalt erschien im Nebel und kam langsam auf sie zu. Carol wäre am liebsten in den Ginpalast geflüchtet. Doch Rodney würde wütend sein, wenn sie nicht auf Männerfang ging. Das war immer noch besser, als von Jack the Ripper zerfleischt zu werden.
„Guten Abend, Miss Carol.“
Carol hatte gerade loslaufen wollen, als sie die tiefe Männerstimme hörte. Eine Welle der Erleichterung und Freude wärmte ihren durchgefrorenen Körper. Der Mann, der sich ihr näherte, war Konstabler Briggs. Der schnurrbärtige Polizist war immer nett zu ihr und behandelte sie wie einen Menschen. Das war nicht selbstverständlich. Viele seiner Kollegen zeigten den Straßenmädchen offen ihre Verachtung. Vom Alter her hätte Konstabler Briggs ihr Vater sein können. Ihren leiblichen Vater kannte Carol gar nicht. Sie war in einem Waisenhaus in Baywater aufgewachsen. Ihre Mutter war an der Cholera gestorben, als Carol zehn Jahre alt war.
„Guten Abend, Konstabler Briggs“, erwiderte Carol seinen Gruß, als der Polizist unmittelbar vor ihr stand. Der Nebel war inzwischen sehr dicht. Im fahlen Licht der Gaslaterne konnte Carol die blaue Uniform und den hohen Helm erst erkennen, als Briggs sich nur noch eine Armeslänge von ihr entfernt befand.
„Das ist kein Wetter für mein Rheuma. Die Feuchtigkeit kriecht mir in die Knochen. Aber die Metropolitan Police schickt jeden verfügbaren Mann auf Patrouille, solange dieser brutale Schurke sein Unwesen treibt.“
„Gibt es denn noch gar keine Hinweise auf ihn?“
Carol vermied es, den Namen Jack the Ripper auch nur auszusprechen. Wie die meisten Menschen in Whitechapel war sie abergläubisch und ließ sich regelmäßig die Karten legen. Madame Rosa hatte ihr schon fünf Mal eine große Veränderung in ihrem Leben vorhergesagt. Bei jedem Gentleman, mit dem Carol aufs Zimmer ging, hoffte sie auf die große Liebe. Auf einen Mann, der sie aus dem Elend herausholen würde. Sie träumte von einem
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