Blutstein
Platzwahl!«
Das Geraune verstummte, die Gäste nahmen Platz, und Max lächelte
ihnen aufmunternd zu.
Vendela konnte sehen, dass Max in der Rolle des Gastgebers aufging.
Als Bühnenkünstler. Er fühlte sich ausgesprochen wohl in dieser Rolle und
strahlte Sicherheit aus, wenn er im Zentrum stand und alle Blicke auf ihm
ruhten. So hatte sie sich damals in ihn verliebt.
»Ich heiße Sie alle herzlich willkommen.« Max hob sein Weinglas und
fuhr fort: »Meine wunderbare Frau und ich haben den ganzen Tag in der Küche
verbracht, um diese kleinen Köstlichkeiten herzurichten. Viele der Rezepte
stammen aus meinem neuen Buch ... daher hoffen wir sehr, dass es Ihnen schmeckt!«
22
G erlof
hatte sich eigentlich vorgenommen, zu seinen neuen Nachbarn auf Distanz zu
bleiben. Aber nach den ersten Gläsern Whiskey fühlte er sich ziemlich wohl auf
der ausladenden Veranda aus geölten Holzplanken.
Die Gastgeber hatten einen großen Ledersessel nach draußen getragen
und ihn wie den Patriarchen am Kopfende der Tafel platziert. Die zierliche
Hausherrin, Vendela Larsson, hatte ihm eine Decke über die Beine gelegt, und
auch sonst musste er sich um nichts kümmern – alle reichten ihm pausenlos die
verschiedenen Gerichte und Getränke an. Gemütlich zurückgelehnt saß er neben
seinem Freund John und genoss den Abend.
Zwei große Gläser Whiskey waren genau genommen eines zu viel für
ihn, und er hoffte sehr, dass sich jemand anbieten würde, ihn in seinem
Rollstuhl nach Hause zu schieben – bloß nicht zu spät. Es war schon halb neun,
der Alkohol machte ihn ganz schläfrig, aber die anderen Gäste schienen es nicht
im Geringsten eilig zu haben, ihre Teller leer zu essen. Sie waren noch lange
nicht beim Nachtisch angekommen.
»Sagen Sie, Gerlof, Sie haben also mit John hier unten im Steinbruch
gearbeitet?«, fragte Per und nickte mit dem Kopf zu dem schwarzen Loch hinter
ihnen.
»Nur im Sommer, als wir Kinder waren«, erwiderte Gerlof.
»Bevor wir Seemänner wurden«, ergänzte John.
»Sie waren Steinhauer?«, fragte Max Larsson, der nicht richtig
zugehört hatte.
Gerlof schüttelte den Kopf.
»Wir waren zu dünn und zu schwächlich.«
»Ach was. War das so ein harter Job?«
Gerlof schwieg. Er überlegte, ob diese Menschen vom Festland
überhaupt begriffen, dass der Steinbruch ein ehemaliger Arbeitsplatz war – oder
ob sie ihn nur als eine Art Panoramaaussicht ansahen, die zu ihrer Freude
oberhalb des Strandes angelegt worden war und sie mit niedlichen Steinhäufchen
hier und da und kleinen Seen aus Regenwasser verzückte, in denen sie baden
konnten.
Sie würden niemals verstehen, was für eine Schinderei es bedeutet
hatte, den Kampf gegen den Berg zu gewinnen, ihm Tag für Tag den Kalkstein
abzutrotzen, nur mit Brecheisen und Hammer bewaffnet. Sein Freund Ernst hatte
ihm einmal erzählt, dass er im Lauf seiner vierzigjährigen Arbeitszeit im
Steinbruch bestimmt an die fünfzigtausend Meter Kantenstein aus Kalkstein
geschlagen hatte: für Treppen, Straßen und Bürgersteige rund um die Ostsee.
Und natürlich Grabsteine. Für Grabsteine hatte es immer Bedarf
gegeben, auch in schlechteren Zeiten.
»Nein, Steinhauer sind wir nicht geworden.« Gerlof sah zu John.
»Aber wir waren fleißige Gehilfen, erinnerst du dich noch? Wir haben den
Männern Werkzeuge gebracht, den Wassergeist gesäubert und solche Sachen.«
»Den Wassergeist?«, wiederholte Per fragend.
»Die Hütte, in der die Arbeiter Pause machten, wurde so genannt.«
In diesem Moment wurde Gerlof bewusst, dass John und er
wahrscheinlich die Letzten im Ort waren, die sich an diesen Begriff noch
erinnerten. Die Steinhauer waren alle schon weg.
Gerlof nahm einen Schluck von seinem Whiskey und fuhr fort:
»Früher glaubte man, dass der Troll im Steinbruch lebt. Allerdings
bin ich auf ein ganz anderes Wesen gestoßen, als ich ein kleiner Junge war ...«
Er registrierte, wie John neben ihm die Schultern hängen ließ. Er
hatte diese Geschichte schon viele Male hören müssen. Trotzdem fuhr Gerlof mit
seiner Erzählung fort:
»Als ich etwa acht oder neun Jahre alt war, habe ich im Steinbruch
einen Kranich gefunden. Es war schon Abend, und alle Steinhauer waren bereits
nach Hause gegangen. Das Vogeljunge lag vor mir im Kies. Ich wusste nicht, wo es
hergekommen war, es war auch zu jung, um selbst fliegen zu können, aber seine
Eltern waren nirgendwo zu sehen. Vielleicht hatte der Fuchs sie erwischt ... Also
nahm ich das Junge mit, legte es in unserem Schuppen
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