Blutsvermächtnis (German Edition)
Sonne unter und der Mond tauchte das Zimmer infahles Licht. Alle paar Sekunden durchzuckten Farbblitze Nevaehs Gehirn, wann immer sie ein Blinzeln nicht mehr zu unterdrücken vermochte. Die Augenblicke waren zu kurz, als dass sich die Bilder manifestierten.
Die Frau, die bereits das Essen am Vortag serviert hatte, brachte Frühstück. Nevaeh rührte es nicht an. Dass weitere Mahlzeiten folgten, Korhonen mehrmals das Zimmer betrat und sie ansprach und irgendwann die nächste Nacht hereinbrach, bekam sie nur am Rande mit. Tiefer und tiefer trieb sie ihren Geist in die Enge, beschwor sich mit dem nicht endenden Mantra: Niemals! Niemals! Niemals!
Fünf pummelige, gelbe Küken wackelten einer weißen Henne mit stolz geschwellter Brust hinterher. Das Bild entlockte ihrem Begleiter ein Lächeln, zauberte Fältchen um seine Augen. Es ließ ihn noch sinnlicher und anziehender wirken. Sein schwarzes Haar glänzte im Sonnenschein, seine grünen Iriden sprühten Funken voller Liebe, die wie Champagnerperlen über ihre Haut kribbelten. Er bückte sich und hob eine Feder auf.
Süß, so süß schmeckte seine Nähe. Sanft, so sanft fuhren die Hände über ihre nackten Arme. Heiß, so heiß kochte das Blut in ihren Adern.
Der Frühling spielte mit lauem Wind in ihrem Haar, sandte den Duft nach Krokussen und Maiglöckchen, gemischt mit saftigem Gras und einer Ahnung des Sommers. Sie sank auf eine Decke über einem Berg frischen Heus und ließ sich sachte hinunterdrücken, bis sie auf dem Rücken lag, die Arme weit hinter den Kopf gestreckt. Eine Feder strich ihren Bauch entlang, umkreiste den Nabel, bewegte sich gemächlich nach oben. Zwischen ihren Brüsten verharrte der Flaum. „Bitte …“ Ihr leises Seufzen schmiegte sich in das Säuseln des Frühlingswindes, dessen Streicheln sich auf ihrer Haut kaum von dem der Feder unterschied. Nur dass die Daune jetzt neckende Kreise zog, quälend langsam Achten um die Rundungen ihres Busens fuhr. Sie atmete tief ein, hob den Brustkorb an, versuchte, sich unauffällig der Berührung entgegenzustrecken, doch wie von Zauberhand änderte sich nichts an dem viel zu sanften Druck, der sie mehr und mehr zur Verzweiflung trieb. Sie drehte den Kopf zur Seite, rieb das Gesicht am Oberarm, damit sich das Seidentuch um ihre Augen lockerte, aber es widersetzte sich ihrem Ansinnen.
Wonneschauder jagten über ihre Haut, versetzten ihre Muskeln in leise Vibration, fluteten ihr Herz mit erregender Hitze. Lippen berührten sie. Eine Zungenspitze hinterließ eine feuchte Spur, welche die Frühlingsbrise in wohltuende Kühle verwandelte. Sie bog den Rücken durch, legte den Kopf weiter in den Nacken, presste ihre Kehle der weichen Zärtlichkeit entgegen, ihren Hals, ihr Kinn.
Dann – endlich – nach Äonen – nahm er von ihrem Mund Besitz. Seine Zunge drang in sie ein, teilte ihre Lippen, suchte nach der ihren. Wie ein Blitzschlag durchzuckte es sie, als sie sich berührten.
Laut, so laut knallte der Schuss durch das Tal. Kalt, so kalt der eisgraue Blick. Hart, so hart der Aufprall des Getroffenen.
Lieblich, so lieblich der Duft. Feinfühlig, so feinfühlig die Stimme. Friedlich, so friedlich der Ort.
Grausam, so grausam der Schmerz. Trostlos, so trostlos die Zukunft. Einsam, so einsam das Herz.
Schreiend erwachte Nevaeh. Jemand wischte ihr das schweißnasse Haar aus der Stirn. Nur verschwommen schälte sich ein Gesicht wie aus einer Nebelbank. Sie erkannte Niilo Korhonen. Nevaeh fuhr sich mit der Zunge über die aufgeplatzten, trockenen Lippen. „Durst …“
Er reichte ihr ein Glas Wasser. Ihre Hände zitterten, als sie es an den Mund führte. Ein paar Tropfen nässten den Kragen ihres Pullis.
„Soll Ms. Vänskä Ihnen helfen, zu duschen und sich umzuziehen?“
Ihr gelang nur ein schwaches Nicken. Ein Tsunami überrollte ihre Gedanken mit der Erkenntnis, dass sie geträumt hatte; dass sie es nicht geschafft hatte, ihre Fähigkeit unter Verschluss zu halten. Angst weitete ihre Nasenflügel, sie schüttelte sich.
„Ich werde Ihnen nachher ein Schlafmittel geben, damit Sie den Rest der Nacht ohne Träume schlafen können.“
Pure Dankbarkeit flutete ihr Innerstes.
„Unter einer Bedingung.“
Sie suchte Korhonens Blick.
„Wir haben beschlossen, es Ihnen zu überlassen, ob Sie lernen wollen, Ihre Gabe zu kontrollieren oder sich helfen lassen, die Träume zu unterdrücken.“
Hoffnung.
„Aber nicht ohne Hilfe. Morgen früh begleiten Sie mich zu dem Psychologen.“
Nevaeh nickte
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