Blutsvermächtnis (German Edition)
Schutt, Sand und Geröll zugeschüttet. Von oben würden sich Säuren in verschiedenen chemischen Zusammensetzungen in die Zwischenräume ergießen und zum schnellen Zerfall von Mobiliar wie Gerätschaften führen. Für den nachrutschenden Sand aus dem Tal des Todes würde die hundert mal fünfzig Yards große in sich zusammensackende Fläche nur das Füllen eines hohlen Zahns bedeuten.
Nancy zog ein Handy aus ihrer Tasche und wählte.
„Vater?“ Unverhofft schluchzte sie auf, dem Gehör nach wandelte sie sich in ein bemitleidenswertes Weibchen. „Daddy … es ist so schrecklich. Ich wollte dir helfen, die Mumie … nee, ich bin okay, mir ist nichts passiert, aber … ja, aber … nee, wirklich Daddy, mir geht’s gut. Wo bist du? Ja, ich bin auf dem Rückflug aus Chile. Nee, du brauchst mich nicht abzuholen, ich komme ins Schlösschen. Nee, bleib ruhig bei ihr. Ja, Daddy. Hab dich auch lieb.“
Ihre Miene kalt wie ein Eisblock, während ihr Gestammel einen Gletscher zum Schmelzen brachte. Mit einem zufriedenen Grinsen legte sie auf. Sie lehnte sich zurück und fixierte einen nach dem anderen mit ihrem Blick.
Ob er es doch wagen sollte, in ihrer Aura zu lesen? Elia entschied sich dagegen. Die Gefahr, dass sie es spürte, war zu groß. Ihr Blick spiegelte den Irrsinn eines Selbstmordattentäters. In den Gedanken von Vater und Sohn fand Elia keine Anhaltspunkte zu Nancys Ziel. Ein Schlösschen? In Amerika gab es seines Wissens keine Schlösser. Wieder schielte er auf die Uhr und begann, die Sekunden rückwärts zu zählen. Das Ende eines zwölf Jahrtausende alten Heims. In fünf Sekunden. Er riss die Fensterblende hoch und starrte auf die Wolkendecke. Jetzt!
Elia wartete auf den Schmerz, doch er blieb aus, als hätte er jegliche Fähigkeit zur Empfindung von Gefühlen verloren. In der Ferne stach die Spitze eines Berges aus dem Weiß hervor. Augenblicklich sah er sich auf dem Gipfel des Licancaburs stehen und seine Väter um Gnade anflehen. Er spürte, wie seine Seele zerriss. Ein Teil blieb hinter ihm in den Anden zurück. Ihm schwindelte, sein Kopf fiel wie von allein zurück an die Kopfstütze.
Vielleicht fände er einen Weg, der unwürdigen Situation ein Ende zu setzen, wenn ihm einfiele, wer dahinterstecken könnte. Welche Rolle spielte Nancys Vater? War er verwickelt oder der Anruf nur eine Farce? War es Zufall, dass sich das Institut in L. A. befand und Nancy auf dem Weg dorthin, um Untersuchungen an den Knochen vornehmen zu lassen oder führten noch andere Spuren in diese Stadt?
Elia versetzte sich in Gedanken nach Los Angeles. Seit mindestens dreißig Jahren hatte er keinen Fuß in die Metropole gesetzt. Es gab jemanden, der genauestens von der Existenz der Gebeine seines Babys wusste, doch Morrison kannte den Mann nur vom Telefon. Woher dessen Auskünfte stammten, blieb Elia nach wie vor ein Rätsel. Ihm war bewusst, dass er in der Vergangenheit hier und dort Fehler begangen hatte und Spuren in den Annalen der Geschichte zu finden waren, doch die Puzzleteile in eine Verbindung zueinander zu bringen, stellte eine Kunst dar, wenn nicht eine Unmöglichkeit.
Sein größter Fauxpas musste es gewesen sein, Platon über Atlantis in Kenntnis zu setzen – doch die geistigen Hinterlassenschaften des griechischen Philosophen aus der Antike interessierten heute nicht mehr sonderlich. Jedenfalls wurden sie größtenteils nicht mehr als faktisch, sondern nur noch als metaphorisch angesehen. Äußerst selten hatte er weiteren Vertrauten Persönliches verraten. Erst recht hatte es kaum jemanden auf diesem Planeten gegeben, der von Mestors Existenz wusste. Wem hatte er das anvertraut? Platon und Sokrates. Lange Zeit danach war er im späten Mittelalter mit einem Dichter eng befreundet gewesen, dem er sich ebenfalls offenbart hatte. Und Annalena, seine letzte Geliebte vor Hunderten von Jahren. Sie war keine bekannte Persönlichkeit, von der Geschichtsbücher erzählten. Verdammt, sie waren alle seit Ewigkeiten tot!
Alle … außer Crichton! Elias Puls kam kurzzeitig ins Stocken. Es sollte doch wohl nicht sein bester und einziger Freund sein, der sich letztlich als Verräter herausstellte? Schenkte er Morrison bedingungslos Glauben, dann war dessen Informant der festen Überzeugung, dass die Mumie existierte. Viel schlimmer war, dass er zu wissen glaubte, welches Geheimnis die sterblichen Überreste bargen. Noch schlimmer war, dass die Spekulationen allesamt falsch waren. Mestor trug das Gen nicht. Wäre dieses
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