Blutsvermächtnis (German Edition)
uns kennengelernt haben?“
Jayden wollte ihr nicht ins Gesicht schauen, nicht ablesen, was in ihr vorging. Selbst auf die Gefahr hin, dass sie ihm einen glühenden Ast übers Kreuz schlagen würde, es musste aus ihm hinaus. „Unsere Mutter hat ihn vergöttert. Sie starb kurz nach seinem Tod an ihrem Kummer.“ Die Worte sprudelten nur so hervor. Über den Tag, an dem sein Vater ihm von der Existenz der Dream Shaper erzählte und ihm einredete, es gebe eine Verursacherin, die es verdient habe, dass man Vergeltung an ihr übe. Wie er mit uraltem Wissen trumpfte, das den meisten alten Finnen in den einsamen Dörfern zu eigen war und den Glauben an Übersinnliches und höhere Mächte den Nachkommen in die Wiege legte. Den bis ins Detail ausgearbeiteten Plan, dass Jayden das letzte Jahr seines Studiums als Auslandsjahr in Kalifornien verbringen solle, anstatt in Helsinki seinen Abschluss zu machen. Dass er gesandt worden war, um sich an Nevaeh zu rächen, ihr einen Denkzettel zu verpassen. Dass Vater sogar nicht davor scheute,ihn zum Mord aufzufordern, was er zwar nie in Betracht gezogen, dem aber auch nicht vehement widersprochen hatte. Und dann, wie sich seine Ansichten veränderten. Dass er sich in sie verliebte, ihr aufrichtige Gefühle entgegenbrachte. Dass er in ihr keineswegs eine Schuldige sah, sondern ein Opfer ihrer Gabe. Dass sich daraufhin sein Berufswunsch geprägt habe, Paranormalität zu ergründen. Dass er sich verdamme, weil seine Liebe nicht stark genug gewesen sei, zu ihr zu stehen und er stattdessen den leichten Weg des Rückzugs gewählt hatte. Dass … Jayden gelangte ans Ende seiner Kraft. Er sackte zusammen, ein ersticktes Schluchzen entrang sich seiner Kehle.
Das Feuer war längst erloschen, als er wieder klar denken konnte. Die Sonne schob sich über den Horizont und in wenigen Minuten erwärmte sich die Luft, sodass er sich aus Decken, Schlafsack und Kleidung schälen musste, um nicht in Schweiß zu baden. Er mied Nevaehs Blick, brachte es nicht fertig, ihr in die Augen zu sehen. Als sie sich leise räusperte, erschrak er wie von einem unerwarteten Gewittergrollen.
„Was geschah mit Jenna?“
Froh, nicht bei seiner eigenen Person anknüpfen zu müssen, flossen die Worte wie in der Nacht. „Als ich sie kennenlernte, schien es, als würde sie sich fangen und ihre Begabung unter Kontrolle bringen. Doch dann verschlimmerte sich die Situation mehr als jemals zuvor. Ein Freund von mir starb und sie gab sich die Schuld. Sie zog sich erneut zurück, gestattete niemandem, sie zu Gesicht zu bekommen. Jenna lebte eingesperrt wie ein Tier. Nur durch einen Schlitz in der Tür durfte ich ihr Essen und frische Wäsche reichen. Vor drei Monaten hat sie Suizid begangen. Sie schnitt sich die Pulsadern auf. Und sie nahm meinen Vater mit sich. Sie glaubte, mir damit eine Last von den Schultern zu nehmen. Jedenfalls stand das in ihrem Abschiedsbrief.“
„Das tut mir leid.“ Nevaeh gab ihm einen Moment zum Verschnaufen, bevor sie weitersprach. „Sie war eine Dream Shaperin, hast du gesagt. Wie hat sich das bei ihr ausgewirkt?“
„Ihre Befähigung keimte erst, als sie bereits Mitte zwanzig war.“
„Bitte sag schon. Wie wirkte es sich aus?“ Nevaeh knetete ihre Fäuste, dass es knackte.
„Zuerst vermutete Jenna Wahrsagerei. Hellsehen. Sie vertraute sich ihrer Mutter an und die wusste, was mit ihrer Tochter los war. Sie kannte die uralte Legende und war entsetzt, in ihrem Umfeld galten Traumprägerinnen als Fluch. Fortan behandelte man Jenna wie eine Aussätzige. Machte sie in der Öffentlichkeit schlecht und stellte sie als Verrückte dar. Jenna entwickelte sich zu einer Einzelgängerin, die so gut wie jede Zusammenkunft mit Menschen mied.“
„Wie funktioniert das Prägen?“
„Niemand weiß es. Vermutlich reicht der Kontakt zu der Person aus, ein Impuls, der das Gehirn des Gegenübers manipuliert. Vielleicht eine Art Telepathie – man kann es leider nicht erforschen, weil keine weiteren Dream Shaperinnen bekannt sind. Fakt ist, dass es keine gibt, die es jemals geschafft hat, ihre Gabe unter Kontrolle zu bringen.“
„Wieso redest du nur von Frauen?“
„Das DPA kennt nur zwei Fälle, deine Urgroßmutter und Jenna. Soweit wir von anderen Instituten, die sich mit der Erforschung von Paranormalität beschäftigen, wissen, gibt es sie nur selten und es sind immer Frauen. Weltweit liegen Berichte bis in lange zurückliegende Zeiten vor. Alle Dream Shaperinnen sind gescheitert. Keine der
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